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Schnellurteil im Kunstscharfgericht

Von Christina Böck

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Lyrik ist normalerweise kein Garant für Aufreger. In der deutschen Kulturlandschaft ist aber genau das seit ein paar Wochen der Fall. An der Berliner Alice-Salomon-Hochschule wurde ein Gedicht des bolivianisch-schweizerischen Dichters Eugen Gomringer angebracht. Da stand also an der Fassade: "avenidas / avenidas y flores / flores / flores y mujeres / avenidas / avenidas y mujeres / avenidas y flores y mujeres y / un admirador." Von diesen Alleen, Blumen, Frauen und einem Bewunderer fühlte sich der Studierendeausschuss der Universität aber patriarchalisch beleidigt und "unangenehm an sexuelle Belästigung erinnert". Daher wurde beschlossen, dass das vermeintlich sexistische Gedicht übermalt werden soll. Im Herbst soll ein anderes, vielleicht ja politisch korrekteres, folgen.

Dass ein Gedicht nicht nur aus Assoziationen, die es auf den ersten Blick bei manchen Betrachtern auslöst, besteht, ist diesen Berliner Akademikern offenbar fremd. Auch Germanisten, die vom deutschen Feuilleton auf den Plan gerufen wurden und auf Interpretationsmöglichkeiten der Sprache und der Form und der Bedeutung des Fehlens eines - Achtung, ungegenderte Fachsprache - lyrischen Ichs hinwiesen, konnten die Uni nicht umstimmen.

Nun ist das Gedicht mitten in Berlin auf einem Banner wieder aufgetaucht - die Stiftung Brandenburger Tor hat es am Pariser Platz "publiziert". Es ist zumindest der Versuch eines halbwegs versöhnlichen Endes dieses unwürdigen Schnellprozesses im Kunstscharfgericht.