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Schnuppern bei den "alten Hasen"

Von Piotr Dobrowolski

Europaarchiv

Lehrlinge mit viel Taschengeld, so soll ein Brüsseler Lästermaul unlängst die zehn neuen EU-Kommissare genannt haben. Und in der Tat: Immer noch ist unklar, was die Neokommissare eigentlich vom 1. Mai bis November, bis das Mandat der jetzigen Kommission unter Romano Prodi ausläuft, tun sollen. Klar ist nur - einen eigenen Zuständigkeitsbereich wird keiner von ihnen bekommen. Hospitieren und schnuppern bei den alten Hasen ist angesagt. Das alte Europa reagiert auf die neuen Kommissare daher vorläufig mit vornehmer Zurückhaltung - die breitere Öffentlichkeit kennt, wenn es hoch hergeht, gerade ihre Namen.


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In den Beitrittsländern selbst sind die zukünftigen Kommissionsmitglieder naturgemäß etwas bekannter. Doch als nach und nach deutlich wurde, wer nach Brüssel entsandt wird, reagierten die osteuropäischen Medien von Laibach bis Warschau dennoch eher hilflos: Es gab etwas Beifall und dann widmete man sich jener Frage, bei der alle mitreden zu können glaubten: dem Geld, das die Auserwählten im fernen Brüssel kassieren werden. Minuziös und mit wahrlich innereuropäischer Sachkenntnis zählte da etwa die Pressburger SME die zukünftigen Bezüge des slowakischen EU-Kommissars Jan Figel auf - mit und ohne Zulagen.

Erfahrene Persönlichkeiten

Außer Spesen vorläufig also nicht gewesen? Nicht ganz. Die acht osteuropäischen Kandidaten, die von Romano Prodi bereits akzeptiert wurden, vom Europäischen Parlament aber noch bestätigt werden müssen, machen zumindest eine Tendenz deutlich: Nach den Wirren des Brüsseler Gipfels vom Dezember war man offensichtlich bemüht, nicht noch mehr Porzellan zu zerschlagen. Das gilt vor allem für Polen, das mit der Europaministerin Danuta Hübner eine begeisterte Europäerin in die Kommission entsendet, von der viele erhoffen, sie würde bald die europäisch-polnischen Wogen glätten. Das gilt aber auch für die Slowakei, die von einer extravaganten Idee des Regierungschefs Mikulas Dzurinda Abstand nahm und statt des von ihm favorisierten Chefs von Coca-Cola Osteuropa Ivan Stefanec, doch den ausgewiesenen EU-Experten Jan Figel nach Brüssel schickte. An EU-Erfahrung mangelt es auch den meisten anderen designierten Neokommissaren nicht: der Slowene Janez Potocnik war wie Figel ebenfalls EU-Chefverhandler und überdies ein recht erfolgreicher Europaminister seines Landes, der Ungar Peter Balazs schließlich braucht nach seiner Nominierung nicht einmal zu übersiedeln - er amtiert schon jetzt als Chef der ungarischen Vertretung bei der EU in Brüssel.

Frauen ans Ruder

Drei Länder haben außerdem einen dringenden Wunsch von Kommissionspräsident Romano Prodi erfüllt und Frauen nach Brüssel entsandt: neben der Polin Danuta Hübner werden auch die Lettin Sandra Kalniete und die Litauerin Dalia Grybauskaite in die Kommission einziehen. Prodis Strategie, den Frauenanteil in der Kommission durch sanften Druck auf die neuen Mitgliedsstaaten zu erhöhen, führte allerdings auch zu seltsamen Auswüchsen. So diskutierte man in Tschechien allen Ernstes darüber, ob es denn Sinn mache, einen Mann zum Kommissar zu machen, wo eine Frau im politisch korrekten Brüssel doch viel bessere Chancen auf ein wirklich wichtiges Ressort hätte.

Ein wichtiges Ressort für unsere Frau, unseren Mann in Brüssel. Das ist die Quintessenz jener Wünsche, die Osteuropas Regierungen derzeit wie ein Stoßgebet gen Brüssel richten. Polen und Ungarn etwa rittern schon jetzt um das Amt eines Kommissars für Strukturpolitik. Der Ungar Peter Balzs ging in seiner psychologischen Kriegsführung gar so weit, dass er unmittelbar nach seiner Designierung zum Kommissar in alle Welt herausposaunte, Romano Prodi hätte ihm die Strukturpolitik-Agenden bereits fix versprochen. Worauf Frau Hübner umgehend bei Prodi vorstellig wurde, um auch ihren Appetit auf die besagte Stelle zu bekunden.

Dass die Neuen ihre Anliegen überaus lautstark vortragen, hat vor allem innenpolitische Gründe. In wohl allen osteuropäischen Ländern dominiert die Ansicht, ein Kommissar habe in Brüssel für die Wahrung der nationalen Interessen zu sorgen. Dass ein Kommissar verpflichtet ist, vor allem im Sinne der Union tätig zu sein, hat sich oft selbst in der politischen Klasse nicht wirklich herumgesprochen. Nahezu jeder der frisch Designierten musste sich zuhause daher bereits vorab die Kritik gefallen lassen, er sei Brüssel gegenüber zu nachgiebig und ein Verräter an der nationalen Sache.

Zurufe aus der Heimat

Als ganz immun werden sich die neuen Kommissare gegen Zurufe dieser Art gewiss nicht erweisen. Denn in den Beitrittsländern ist die Zustimmung zu Europa bei weitem nicht so ungebrochen, wie es die Ergebnisse der Beitrittsabstimmungen vermuten lassen. Es stimmt zwar: Das Votum war eindeutig - von 92,5 Prozent Ja-Stimmen in der Slowakei bis 66,8 in Estland. Bloß: Berücksichtigt man die durchwegs dramatisch niedrige Wahlbeteiligung - in der Slowakei beteiligten sich am EU-Referendum gerade 52,1 Prozent der Wahlberechtigten -, dann sieht die Sache ganz anders aus. Von der Gesamtbevölkerung hat dann gerade in zwei Ländern, Litauen und Slowenien, die Mehrheit aktiv mit Ja zu Europa gestimmt. In allen andern Staaten blieben jene, denen ihre Europabegeisterung es wert war, den Weg ins Wahllokal auf sich zu nehmen, in der Minderheit. Diese gar nicht so geringe Europa-Skepsis wird die neuen Kommissare zusätzlich unter Druck setzen. So halten in Polen die beiden europafeindlichen Parteien im Parlament, die Liga der polnischen Familien und die Selbstverteidigung von Andrzej Lepper derzeit in Umfragen zusammen bei rund 35 Prozent der Stimmen. In Tschechien verfügt mit der kommunistischen KSCM eine wenn schon nicht offen antieuropäische, so doch radikal EU-skeptische Partei über einen Wähleranteil von 18 Prozent. Und das ODS-Bürgerforum von Präsident Vaclav Klaus ist auch jederzeit für einen Seitenhieb gegen Brüssel gut. In der Slowakei irrlichtert wiederum immer noch Vladimir Meciar durch die politische Landschaft - zur Zeit als gar nicht so aussichtsloser Präsidentschaftskandidat.

Zu vermuten bleibt daher, dass die neuen Kommissare allein schon wegen der objektiven Beschränkungen, die ihnen die politische Kraftverteilung in ihren Ländern aufwirft, kaum zu besonders kämpferischen Verfechtern einer beschleunigten gesamteuropäischen Integration werden dürften.