Für Kiew ist Deutschland die Schwachstelle in der Front gegen Putin. Die Realität ist komplizierter.
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Die um ihr staatliches Überleben kämpfende Ukraine hat Deutschland als Schwachstelle in der europäischen Front gegen Russland identifiziert; und mit bisher beispielloser diplomatischer Härte versucht Kiew, die unwillige europäische Führungsmacht zu einer noch entschlosseneren Unterstützung zu drängen. Das beschert dem sozialdemokratischen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz seine bisher schwerste Kritik.
Persönliches Geschick, medial und demoskopisch attestierte Chancenlosigkeit und die Fehler der Konkurrenz haben den seriösen, aber farblosen Finanzminister Scholz im Dezember ins Bundeskanzleramt als Nachfolger Angela Merkels katapultiert. Dieser Niederlage verdankt es die CDU, dass nun (fast) niemand über die verständnisvolle Russland-Politik Merkels spricht, dafür umso mehr über die zahlreichen Verbindungen der SPD zu Wladimir Putin diskutiert wird.
Die Brüskierung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (ebenfalls SPD), dem die Regierung in Kiew, wider jede diplomatische Konvention, den Solidaritätsbesuch verwehrte, war nur der bisherige Höhepunkt. Seitdem werden nicht nur ehemalige SPD-Politiker wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder, sondern auch aktive Führungskräfte von ihrer jüngeren und jüngsten Russland-Politik eingeholt.
Militärische Neutralität und politische Irrelevanz bewahren Österreich, obwohl inhaltlich auf Scholz-Linie, vor einer identen Debatte; wobei hierzulande die Absicht, mit dem Finger auf die andere Seite zu zeigen, statt einen politischen Kurs, der nach 1955 weitgehend Konsens zwischen allen Lagern war, in Frage zu stellen, im Vordergrund steht.
Die Debatte um Scholz und seine Kanzlertauglichkeit rührt noch an einer weiteren Grundsatzfrage - für Deutschland, wie für alle anderen EU-Staaten. Jeder demokratisch legitimierte Regierungschef ist laut Verfassung Schutz und Wohl von Bürgern und Land verpflichtet. Das ist in Alltagsfragen europäischer Politik oft, wenn nicht meistens kein Thema. Geht es jedoch um das Verhalten im Angesicht eines Krieges, ist das nicht mehr zwingend der Fall.
Eine solche Debatte darüber, wie weit jeder Staat zu gehen bereit ist, muss in den Augen der Ukraine als Zumutung, ja Unerträglichkeit, erscheinen. Notwendig ist sie trotzdem. Scholz’ Problem ist, dass er diese Debatte nicht oder jedenfalls nicht öffentlich zu führen gewillt ist, sondern durch Schweigen irritiert, während alle anderen fordern und drängen, meist ohne die damit einhergehende Verantwortung tragen zu müssen. Es ist die Nicht-Kommunikation des Kanzlers, deren Botschaft in der jetzigen Lage fatal ist.