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Schon im Bauch ein Spargelfan

Von Wibke Baltes

Wissen

Ob jemand gerne Spargel isst, ob er sportlich ist oder musikalisch oder ein eher ängstlicher Typ - solche Eigenschaften werden schon im Mutterleib vorgeprägt. Grund dafür sind die Sinnesorgane des ungeborenen Fötus, die bereits sehr früh in der Schwangerschaft funktionsfähig sind. "Die spätere Entwicklung des Kindes wird vom Gesamtspektrum der Sinneswahrnehmungen im Mutterleib geprägt", erklärt Manfred Hansmann, Professor für Pränatal- und Geburtsmedizin an der Bonner Universitäts-Frauenklinik.


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Frühere Vorstellungen, "dass das Kind in einem abgeschlossenen Raum vor sich hin döst", sind laut Hansmann längst widerlegt. Im Gegenteil - 20 bis 25 Prozent der Zeit sei das Kind wach und sogar relativ munter. Das muss es auch sein: Damit seine Organe später voll funktionsfähig sind, müssen sie noch vor der Geburt ausgebildet und getestet werden. "Der Fötus kann sich nur in fortlaufendem Training entwickeln", unterstreicht Hansmann.

Schon in der vierten Schwangerschaftswoche kommt es zu Muskelreflexen, wenn zum Beispiel der Fötus mit der Gebärmutterwand in Berührung kommt. In der zwölften Woche kann das Kind am Daumen lutschen, von der 20. Woche an ist es in der Lage zu tasten, zu fühlen, zu riechen und zu schmecken. Hat die Mutter geschmacksintensive Nahrungsmittel wie Spargel oder Knoblauch gegessen, kann ihr Ungeborenes das über das Fruchtwasser schmecken - und diesen Geschmack später im Leben wieder erkennen und unbewusst als vertraut empfinden.

Ab der 26. Woche kann es dann hören, schon früh erkennt es die Stimme der Mutter. Besonders sensibel ist das ungeborene Kind für tiefe Frequenzen wie Männerstimmen oder laute Musik, die sogar irreversible Hörschäden bei ihm verursachen kann. Dagegen ist nach Ansicht von Hansmann das Abspielen entspannender Musik ab dem sechsten Monat zu empfehlen. Das Sehvermögen des Fötus ist noch sehr begrenzt, dennoch kann er immerhin Hell und Dunkel schon früh unterscheiden und Lichteinfall wahrnehmen.

Auch das emotionale Befinden der Mutter bleibt ihrem Kind nicht verborgen. Wenn sie unglücklich ist, gestresst oder wütend, übertragen sich diese Gefühle mit ihrem Herzschlag, ihrem Blutdruck, ihrer Stimme oder ihrer Hormonausschüttung auf den Fötus, der darauf selbst mit Schweißausbrüchen und erhöhter Herzfrequenz reagiert. Er leidet sozusagen mit.

Viele Erlebnisse im Mutterleib nimmt das Kind unbewusst in sein späteres Leben mit. Kinder, die in genügend Fruchtwasser und mit ausreichend Bewegungsfreiheit herangewachsen sind, werden wahrscheinlich später einmal gute Sportler. Andere, die Schwangerschaft und Geburt unter Komplikationen überstehen mussten, sind später häufig ängstlich oder introvertiert.

Neuere Forschungen befassen sich vor allem mit dem Schmerzempfinden des Fötus. So reagiert das ungeborene Kind mit unterschiedlichen Vermeidungsstrategien weit über einen bloßen Fluchtreflex hinaus auf Schmerz. So ist es dem Wissenschafter zufolge schon vorgekommen, dass eine zum Zweck der Bluttransfusion eingeführte Nadel völlig verbogen wieder herauskam, weil das Kind sich gedreht und gewunden hatte, um der Nadel zu entkommen.

Aus diesem Grund arbeitet die Bonner Frauenklinik seit drei Jahren mit einem Anästhesieverfahren für ungeborene Kinder. Steht ein Eingriff bevor, zum Beispiel bei einem Kind, das an Blutarmut leidet, wird es vorher in Narkose versetzt, die Mutter selbst bleibt wach. Die bisherigen Erfahrungen damit sind nach mehreren hundert Narkosen im Mutterleib durhwegs positiv.

Auch die Ernährung des Ungeborenen im Falle einer defekten Plazenta hält der Mediziner für ein mögliches Anwendungsgebiet. Es sei in Zukunft durchaus denkbar, den Fötus an der Plazenta vorbei zu ernähren. "Dafür müssen wir aber seine Sinnesphysiologie genau kennen", so Hansmannzu den Forschungen.