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Schöne neue Aufsteiger-Welt

Von Martyna Czarnowska, Tallinn

Europaarchiv

"Nein, nein, Estland liegt keineswegs am Rand Europas." Riho Rasmann, Direktor des Hafens von Tallinn, lacht: "Wir sind keine 80 Kilometer entfernt." Die Fährschiffe nach Helsinki legen die 42 Seemeilen in gut drei Stunden zurück, entsprechend vielfältig und eng sind die Kontakte zu Finnlands Hauptstadt. Estland preschte - auch zur Verwunderung seiner baltischen Nachbarn - beim Beitrittsantrag zur Europäischen Union vor, ebenso bei der Liberalisierung der Wirtschaft. Sechs Wochen vor dem Referendum über den Beitritt zur EU ist Geld verdienen weiter Thema Nummer 1, die EU-Anfangseuphorie ist aber einer nüchterneren Betrachtung gewichen: Einer aktuellen Umfrage zu Folge wollen gut 45 Prozent der Befragten am 14. September mit "Nein" stimmen.


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Toomas und Tonu Toniste sind Segler. Doch jetzt in erster Linie Unternehmer. Früher haben die Zwillingsbrüder für die UdSSR Olympiasilber geholt. Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung Estlands haben sie dann ihren Lebensmittelvertrieb aufgebaut. "1992 haben wir uns überlegt, ins Geschäft einzusteigen", erzählt Toomas Toniste. "Es war der richtige Zeitpunkt: Wer sich damals etwas vorgenommen hat, konnte Geld damit machen." Das Anfangskapital stammte aus Start- und Preisgeldern, internationale Kontakte wurden schon beim Sport geknüpft. Auf der Suche nach PartnerInnen wurden dutzende Faxe, großteils nach Deutschland, verschickt. Angefangen hat es mit dem Import von Schokolade, dann sind Weine dazugekommen und auch österreichische Produkte wie Hipp- oder Vöslauer-Erzeugnisse. Mittlerweile hat die Firma LTT vier Eigentümer, 40 Beschäftigte und einen Umsatz von rund 120 Millionen Kronen. Als Großhändler positioniert sie sich unter den ersten zehn des Landes.

Die Legenden von den Möglichkeiten des finanziellen Aufstieges wollen in Estland Gestalt annehmen. Wer will, der kann - das Motto betört auch zwölf Jahre nach der Lösung von der Sowjetunion zahlreiche junge, dynamische und risikobereite Menschen. Wer seine Kompetenz, Erfahrung oder seinen Informationsvorsprung nutzen will, hat gute Chancen, damit Geld zu verdienen. Nicht umsonst war von den baltischen Tigern die Rede, die wirtschaftlich in kürzester Zeit all die Lektionen lernten, die seit dem Abklingen des Raubkapitalismus in Europa mehr dem Beispiel der USA zugeschrieben werden.

Estland ist ein unternehmerfreundliches Land, mit einer der liberalsten Wirtschaften weltweit. Es gilt ein einheitlicher Einkommenssteuersatz, die sogenannte flat tax; die Körperschaftssteuer auf nicht entnommene Gewinne wurde bereits vor drei Jahren abgeschafft. Der Privatisierungsprozess ist so gut wie abgeschlossen - zum überwiegenden Teil mit Hilfe ausländischer InvestorInnen. Das Wirtschaftswachstum betrug im Vorjahr 5,6 Prozent, und statt eines Budgetdefizits wurde ein Überschuss von 1,2 Prozent des BIP erreicht. Gleichzeitig liegt aber die Kaufkraft der BürgerInnen bei einem Fünftel des EU-Schnitts. Von den rund 1,4 Millionen EinwohnerInnen sind über zehn Prozent arbeitslos. Und je größer die Freiheit des Unternehmers, umso eingeschränkter die Rechte des Arbeitnehmers.

Letzteres zu ändern, wäre Raivo Paavos Job. Doch der Generalsekretär des estnischen Gewerkschaftsverbandes weiß um die Mühen des Unterfangens - zumal die Mitgliederzahl nicht viel Rückenstärkung gibt. Rund 50.000 Menschen und damit gerade einmal 14 Prozent der ArbeitnehmerInnen vereint einer der zwei Verbände, der größere. "Doch das Bewusstsein wächst, dass eine Gewerkschaft notwendig ist", gibt sich Paavo überzeugt, während er in seinem Büro Kaffee anbietet. Viel Platz hat er hier nicht, die Räumlichkeiten sind in einem niedrigen Plattenbau untergebracht, die Zimmer sind klein, die Aussicht auf den betonierten Hinterhof ist eher bedrückend.

Zehn Menschen sind im Zentralverband beschäftigt, der 1990 wieder gegründet wurde. Damals lag das Hauptgewicht der Arbeit bei den Verhandlungen für Kollektivverträge; ein Sozialdialog zwischen Regierung, Arbeitgeber-Innen und Gewerkschaften - der österreichischen Sozialpartnerschaft vergleichbar - sollte gestartet werden. Mittlerweile müsse darauf geachtet werden, dass die erkämpften Gesetze zum Schutz der ArbeitnehmerInnen nicht verwässert werden - was die Arbeitgeberverbände immer wieder versuchen. Immerhin seien bereits 15 Verträge für unterschiedliche Branchen ausverhandelt. Auch ein Mindestlohn wurde gesetzlich festgelegt: Er liegt bei über 2.000 Kronen (rund 130 Euro). Eine Arbeitslosenversicherung gibt es nun auch: Hundert Tage lang erhält ein Arbeitsloser 50 Prozent des Gehalts, danach 90 Tage lang 40 Prozent, dann Sozialhilfe. Früher gab es bloß 400 Kronen staatliche Kompensation.

Trotz der Fortschritte seien die Probleme nicht zu leugnen. Zu den größten zählt der Gewerkschafter Paavo die Arbeitslosigkeit, das niedrige Gehaltsniveau und ein relativ schlechtes Arbeitsumfeld. Finanzielle - und gewissermaßen auch moralische - Unterstützung erhofft er sich von der EU. Zum einen seien dort die ArbeitnehmerInnen besser geschützt. Zum anderen seien Geldspritzen aus den Strukturfonds zu erwarten. Für Qualifizierungsmaßnahmen und andere Investitionen. Denn für die Rolle, die das beim Sozialministerium angesiedelte Arbeitsamt spielt, fällt Paavo nur eine Bezeichnung ein: passiv.

Investitionen ja, aber nicht in höhere Gehälter. Aadu Luukas gefallen die Forderungen der Gewerkschaften wenig. Die Bezahlung hänge doch eher von der Produktivität und vom Export ab, erklärt der Unternehmer. Er empfängt mich an seinem Arbeitsplatz, im 24. Stock eines vor kurzem erbauten Hochhauses. Die eine Seite des Büroraumes ist verglast, darunter breitet sich Tallinn mit seiner renovierten Altstadt, den Geschäftszentren und seinen Hafenanlagen aus. Doch trotz des riesigen Schreibtisches und anderer Symbole der Macht unterscheidet sich Aadu Luukas von seinen jüngeren, vor Erfolg strotzenden Kollegen. Der grauhaarige hochgewachsene Mann mit der bedächtigen und leisen Stimme wirkt eher wie ein italienischer Adeliger denn ein Vorstandsvorsitzender einer estnisch-holländischen Firma, die sich mit Transport sowie Lagerung von Öl und Ölprodukten beschäftigt. Doch seine Argumentation folgt der Überzeugung von der heilenden Wirkung des Wirtschaftswachstums. So ist sein Rezept zur Erhöhung des Lebensstandards simpel: noch mehr Wachstum. Dann fällt für alle mehr ab.

Der sozialen Spannungen ist sich Luukas dennoch bewusst - und zieht Parallelen zur Situation im Irland der 80er-Jahre. Der Lebensstandard sei niedrig gewesen, die Arbeitslosigkeit hoch, Masssenemigration die Folge. Die Lage konnte aber gebessert werden, nachdem alle Gesellschaftsschichten darin eingebunden wurden. Auch in Estland soll nun in einem nationalen Kraftakt und mittels eines "Gesellschaftsvertrages" die Kluft zwischen Arm und Reich etwas verringert werden. Denn auch in Estland sei die Gefahr einer massenhaften Auswanderung real, meint der Unternehmer. Daher müsse die Wirtschaft mehr angekurbelt werden. Und es seien Investitionen ins Humankapital - etwa durch Ausbildung und Qualifizierung - notwendig. "Das Humankapital ist das Wichtigste, was wir haben", sagt Aadu Luukas.

Es ist auch das einzige, was der zwanzigjährige Josef zu bieten hat. Seine Beteuerung, zu harter Arbeit bereit zu sein, klingt nicht geheuchelt. Der Schulabbrecher aus kinderreicher Familie vom Land ist Kellner in dem Altstadtlokal "Sveiki juures", in dem laut Reiseführer trotz tschechischer Küche die estnischen Gäste heimische Volkslieder singen. Das Lokal werde jetzt umgebaut, frisch gestrichen, eine neue Speisekarte komme, erzählt Josef und holt ein etwas zerlesenes Exemplar von Haseks Bestseller vom braven Soldaten unter dem Tresen hervor. "In Prag gibt es ein Restaurant Schwejk, das ist immer voll. Wir müssen noch internationaler werden, mehr für die Gäste tun." Meistens sind es Finnen - aber "die spinnen halt ein bisschen". Es klingt nicht unfreundlich, wie er das sagt. Es ließen sich wohl härtere Worte finden für das Benehmen einiger der Finnen, von denen rund zwei Millionen jährlich in die estnische Hauptstadt kommen, um hier billig Lebensmittel und Alkohol zu kaufen oder gleich zu konsumieren. Josef mag die Stadt dennoch. "Arbeit gibt es nur in der Hauptstadt, also muss man nach Tallin." Sein flüssiges Englisch habe er allein aus dem Fernsehen gelernt, sagt er. Nein, nicht in einem Kurs, einfach durch den Konsum der amerikanischen Serien und das Reden mit den TouristInnen.

Sein wirtschaftliches Weltbild klingt ebenso, als wäre es aus den amerikanischen Serien: "Wenn du etwas erreichen willst und hart arbeitest, dann kannst du es auch erreichen. Da brauchst du nichts und niemanden anderen." Die freie Marktwirtschaft lernt er "by doing", auf die harte Tour. Bei 6.000 Kronen Durchschnittslohn im Land ist ihm in der Gastronomie zunächst ein Job für 2.500 angeboten worden. "Gut, hab ich gesagt, gib mir 2.500 - und wenn ich gut bin, Prozente vom Umsatz." Das hat er jetzt erreicht. Und wenn er im "Schwejk" mehr als 100.000 Kronen in der Kasse abrechnet, kriegt er noch einmal 1.000 als Prämie extra. Eine gute Geschäftsidee wäre es, Wohnungen zu kaufen und dann zu vermieten, sinniert der Kellner. Jetzt kostet eine kleine Wohnung in Tallinn um die 2.000 Kronen Miete, für eine Viertelmillion ist sie zu kaufen. "Aber in der Altstadt kann man für etwas Renoviertes 8.000 Miete verlangen."

Josefs nächstes Berufsziel ist aber vorerst ein Job, den einer seiner Freunde schon hat: Kellner auf einem Schiff. Der Freund fährt von Miami aus auf einem Luxuskreuzfahrer in die Karibik. "Das Trinkgeld dort ist super. Die ganze Welt sehen, ohne dafür bezahlen zu müssen, das wäre es." Reisen zu können ohne Visum, ist auch der einzige Vorteil, den er in einem Beitritt zur Europäischen Union sieht. Später dann will er aber wieder nach Hause. Reich werden? "Ach wo, ich gebe immer alles Geld aus, das ich verdient habe, manchmal auch mehr." Das Leben sei halt zum Genießen da.