Russlands Riviera zählte 1914 zu den beliebtesten Kurzentren der Welt.
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Sotschi. Als der russische Großherzog Michael Nikolaijwitsch vor 150 Jahren im Bergdorf Krasnaja Poljana das Ende des sogenannten Kaukasischen Krieges verkündete, hätte er sich wohl nie vorstellen können, dass an derselben Stelle einmal die Alpin-Bewerbe der XXII. Olympischen Winterspiele ausgetragen werden sollten. Und wahrscheinlich hätte er über den Zweck dieser völkerverbindenden Veranstaltung wohl nur gelacht. Schließlich war der Zarensohn nicht in den Kaukasus gekommen, um dem hier lebenden, rebellischen Volk der Tscherkessen den Frieden zu bringen, sondern dieses Land ethnisch zu säubern und dem russischen Reich einzuverleiben. Heute, eineinhalb Jahrhunderte später, erinnert kaum etwas an diesen Eroberungsfeldzug von 1864. Keine Straße und kein Gedenkstein lassen ahnen, dass hier - unweit des Austria-Tirol-Hauses des ÖOC - einst viel Blut geflossen ist.
Das anmutende, durch den Fluss Mzymta ausgeschliffene Tal sollte vorerst nur der Familie des Zaren und der Aristokratie als Jagdrevier zugänglich bleiben. Und auch wenn Nikolaus II. sein 1901 errichtetes Jagddomizil in Romanowsk, wie Krasnaja Poljana bis 1917 hieß, nie besucht hat, so war dieser beschauliche Ort gemeinsam mit dem Seebad Sotschi bald jedem Russen ein Begriff. Erst 1898 hatte eine Mission der Russischen Geographischen Gesellschaft die Schwarzmeer-Küste besucht und die Qualität der Berg- und Meeresluft wie auch die "außerordentliche Heilwirkung" der schwefelhaltigen Thermalquellen, die erst kurz zuvor bei Macesta entdeckt worden waren, schriftlich festgehalten.
Ab dem Zeitpunkt erlebte die Russische Riviera, wie die "Côte d’Azur des Zarenreiches" auch genannt wurde, einen enormen Aufschwung, der erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 unterbrochen werden sollte. 1896 zählte Sotschi bereits mehr als 1300 Einwohner und verfügte über insgesamt 145 Gebäude, darunter die russisch-orthodoxe Michaelerkirche (von 1891) sowie dutzende Villen, die die Familie des Zaren und vermögende Herrschaften aus Moskau, St. Petersburg und anderen russischen Großstädten hatten errichten lassen. Für die Touristen, "Kurortniki" genannt, hatte man wiederum an der Küste die Promenade Kurortni Prospekt und den weiträumigen Riviera-Park anlegen lassen. Die Kurgäste selbst waren in 13 Hotels mit anschließenden Sanatorien untergebracht, wo bis zu 150 Krankheiten, vor allem Knochen-, Gelenks- und Hautleiden medizinisch behandelt wurden. Bei Herz-Kreislauf-Patienten begehrt waren die 15-minütigen Bäder im "brennenden Wasser" der Quellen bei Macesta. 1911 wurde das erste Krankenhaus (mit 35 Betten) eröffnet.
"Unser Toulouse, unser Biarritz, unser Bordeaux"
Neben den Hotels "Russische Riviera" und "Lazurnij Bereg" (Côte d’Azur) stark frequentiert war unter anderem das 1909 errichtete Jugendstil-Resort "Kaukasische Riviera". Das aus vier Etagen bestehende Gebäude verfügte nicht nur über warmes und kaltes Fließwasser, sondern auch über Restaurant, Theater, Stromversorgung und eine eigene Kanalisation. Leisten konnte sich das alles freilich nur, wer genügend Geld hatte. Die beiden Kurorte Sotschi und Gagra (in Abchasien) seien, berichtete die "Schwarzmeer Gazette" 1915, "die am besten ausgestatteten, heilsamsten und darum attraktivsten und verführerischsten Kurzentren am Schwarzen Meer". Manche gingen sogar so weit, die Stadt mit den bekannten französischen Ferienorten zu vergleichen: "Sotschi ist unser Toulouse, unser Biarritz, unser Bordeaux", notierte einmal ein russischer Kurgast. "Aber es steht weit über ihnen, weil es wärmer und hübscher ist."
Zum Zeitpunkt der tödlichen Schüsse von Sarajevo, im Sommer 1914, zählten Sotschi und die umliegenden Seebäder bereits 20.000 Kurgäste, darunter auch zahlreiche Schriftsteller, Maler und Künstler. Während die meisten an den Strand und in die Heilbäder strömten, übten sich nicht wenige - der Skisport sollte hier erst im 21. Jahrhundert eine Rolle spielen - im Alpinismus.
Sonnenbäder, Bergpartien und Autorennen
Die seltene, unmittelbare Abfolge von Meer und Hochgebirge, die für das angenehme Klima (mit bis zu 2000 Sonnenstunden jährlich) verantwortlich ist, übte damals wie heute auf die Menschen eine besondere Anziehungskraft aus. 1911 etwa ließ der bereits 1878 gegründete Alpinklub einen spektakulären Pfad durch den kaukasischen Fels bis zur sogenannten Agura-Schlucht schlagen, an dessen Ende der Wanderer bis heute mit einem besonderen Ausblick auf den "Adlerberg des Prometheus", der hier gemäß der griechischen Mythologie "an den Kaukasus geschmiedet" worden sein soll, belohnt wird. Einen Höhepunkt stellte auch das alljährliche Automobilrennen von Noworossijsk über Sotschi nach Gagra dar, an dem nicht nur russische, sondern auch zahlreiche westeuropäische Piloten teilnahmen. Ob die Zaungäste wohl damals ahnten, dass hier 100 Jahre später die moderne Formel 1 ihre Russland-Premiere feiern würde?
Mit Beginn des Ersten Weltkrieges war mit der Ferienstimmung Schluss. Wie in den meisten anderen russischen Städten füllte sich auch in Sotschi der Kurortni Prospekt mit Kriegsbegeisterten, die mit der Parole "Nieder mit Österreich und Deutschland!" freudig die Kriegserklärung begrüßten. "Wir kämpfen für eine gerechte Sache", hatte Zar Nikolaus II. seinen Untertanen in einem Manifest ausrichten lassen und an sie den Appell gerichtet: "Möge Gott, der Allmächtige, unsere Waffen und die unserer Verbündeten segnen, und möge sich ganz Russland erheben zu einem heldenmütigen Krieg mit dem Eisen in der Hand und dem Kreuz im Herzen!"
Vom mondänen Kurort zur bedrohten Lazarettstadt
Auf den Jubel folgte allerdings bald Ernüchterung. Um die tausenden verwundeten und kranken Soldaten, die von den polnischen und galizischen Schlachtfeldern weggebracht worden waren, versorgen zu können, wurde Sotschi umgehend zur Lazarett-Stadt erklärt. Tatsächlich sollte es nicht lange dauern, bis auch die Schwarzmeer-Region zum Kriegsschauplatz und Sotschi zur Zielscheibe wurde. Auf den Kriegseintritt der Türkei aufseiten der Mittelmächte im Oktober 1914 folgten wiederholte Angriffe und Beschießungen durch deutsch-türkische Flotten- und U-Boot-Verbände, allein zur geplanten Invasion kam es nicht. Es vergingen noch mehrere Jahre, bis die Stadt schließlich 1918 von der georgischen Armee militärisch besetzt und damit zum Zankapfel der russischen Bürgerkriegsparteien werden sollte.
Allein der alte Großherzog Michael Nikolaijwitsch sollte den Ausgang der Wirren an der russischen Riviera und die Kollektivierung der Kuranlagen durch die neuen kommunistischen Machthaber nicht mehr erleben. Er war bereits am 18. Dezember 1909 an der - französischen - Côte d’Azur gestorben. In Cannes.