Einen beachtlichen Teil unseres Lebens verbringen wir mit Warten. Und diese verwartete Zeit wird keineswegs, wie meist angenommen, immer weniger, sondern immer mehr. Was sich jedoch sehr viel weniger rasch entwickelt, ist eine Kultur des Wartens. Hier beginnt sich aber, wenn auch zaghaft, einiges zu bewegen.
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Das ist auch dringend nötig, denn ungenützte Wartezeit wird heute zunehmend als ärgerlich und als Stress empfunden: ob beim Einkaufen, Shoppen oder Telefonieren, ob im Stau, in einer Haltestelle oder auf einem Bahnsteig oder bei einer der immer umfassenderen Sicherheitskontrollen, ob beim Arzt oder im Restaurant oder vergleichsweise bequem zu Hause (beim Warten auf Handwerker, Lieferungen, Befunde, Bescheide, Bewilligungen . . .). Der Knackpunkt ist: Der Anteil an verwarteter Lebenszeit wird größer, während die Menschen laut Umfragen unwilliger werden, überhaupt zu warten. Das passt immer weniger zusammen.
Mehrfachwartesituationen sind heute typisch: Man steckt im Verkehr fest und gleichzeitig in der Warteschleife einer Hotline, um in Erfahrung zu bringen, wie lange man noch warten muss oder um sich auf eine Warteliste setzen zu lassen. Neu ist aber auch: Lässt man Menschen heute lang warten, werden sie keineswegs immer bescheidener, sondern ganz im Gegenteil immer anspruchsvoller. Sie verlangen, wenn sie endlich drankommen, mehr als nach einer kurzen Wartezeit. Das sorgt für zusätzlichen Zündstoff.
Jahrelanges Warten. Um eine Kleinigkeit handelt es sich nicht: Individuell gibt es natürlich sehr große Unterschiede, aber durchschnittlich verbringen wir laut Einschätzung von Experten mindestens fünf bis sieben Jahres unseres Lebens in Warteschlangen, sechs bis zehn Monate verharren wir vor roten Ampeln und einige Jahre verwarten wir zusätzlich in Telefonleitungen (bis wir schwarz werden, das heißt verwesen).
Es ist paradox: Alles soll immer fixer gehen und dauert doch sehr oft länger als früher. Wir haben es eiliger als je zuvor, die Autos sind schneller als je zuvor und die Staus länger und zahlreicher. Trotz aller Errungenschaften muss der Mensch im e-Zeitalter erstaunlich oft durch den Tag hetzen und dabei immer mehr in immer kürzerer Zeit erledigen (meist fünf Dinge gleichzeitig in Bearbeitung), nur um dann in die nächste Wartefalle zu geraten und all die gewonnene Zeit gleich wieder einzubüßen.
Der Fortschritt erweist sich in der Praxis nicht immer als groß: Am Servicepoint wartet man nicht weniger lang als früher am Schalter, und auf E-Mails wartet man sehr oft länger als auf manchen Brief. Bedenkt man, dass laut unserer Auffassung Zeit Geld ist, wird hier täglich - oft durch Gedankenlosigkeit und schlechte Planung - ein immenser Reichtum vernichtet. Kein erfreulicher Anblick.
Stillstand als Belastung. Heute schon gewartet? Wie wars? Angenehm ist der erzwungene Stillstand kaum jemals und gesund ist er, wie man in Untersuchungen festgestellt hat, auch nicht. Warten, wie bisher betrieben, ist eine Belastung für den Organismus. Der Blutdruck steigt, und für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magengeschwüre und Depressionen erweist sich häufiges Warten als sehr förderlich.
Das Problem mit der Warterei ist: Anspannung und Abwehrhaltung bewirken einen großen Energieverlust. Die Energiebilanz fällt aber noch aus einem anderen Grund negativ aus: Normalerweise bekommt man Aufmerksamkeit zurück, wenn man Aufmerksamkeit schenkt (in Gesprächen, zum Beispiel). In vielen Wartesituationen wird einem jedoch Aufmerksamkeit - und oft sogar sehr viel davon - abverlangt, ohne dass irgendetwas zurückkommt. Fazit: Warten ist anstrengend. Warten schwächt. Man kann sich dabei mitunter sehr viel mehr verausgaben als bei ungebremstem Tätigsein. Und je eiliger man es hat, umso größer ist typischerweise der Wartestress.
Keiner wartet gerne. Aber selbst wer viel Zeit hat, wartet selten gerne: Es ist keine selbstbestimmte Zeit. Dazu kommt, dass die auferlegte Wartezeit häufig ziemlich genau der Wertschätzung entspricht, mit der man uns begegnet - allerdings: Je länger die Wartezeit, umso geringer ist der zuerkannte Wert und folglich der Respekt. Und das ist natürlich eine weitere Quelle für Anspannung und Ärger.
Das ist aber noch immer nicht alles: Wartenlassen ist eine sehr wirksame Waffe. Das mag dem Wartenden im Moment gar nicht bewusst sein, unbewusst schwingt laut Psychologie diese Erfahrung und die Erinnerung an diverse Wartespiele und Machtkämpfe aber immer mit - und sorgt nicht gerade für mehr Entspannung.
Bei manchen Menschen (und diese werden immer mehr) führt das zu einer Warte-Intoleranz. Für chronische Wartemuffel ist die geringste Wartezeit eine unzumutbare Belastung und Beleidigung - offenbar nach der Devise: "Den Chef lässt man nicht warten", "VIPs lässt man nicht warten" (jedenfalls nicht, ohne es ihnen äußerst bequem zu machen).
Kurz: Aus all diesen Gründen kommen heute immer mehr Menschen zu dem Schluss, dass Warten dringend neu definiert und gestaltet werden muss. An Ratschlägen zur Erlernung der "Kunst des Wartens" fehlt es nicht. Sie reichen von Programmierarbeiten über die Anwendung diverser Meditations-, Akupressur- und Massagetechniken bis zu Klavierübungen. So unterschiedlich sie sind, eines spiegeln sie alle: Immer mehr Menschen sind entschlossen, die Wartezeit nicht länger totzuschlagen, sondern Sekunde für Sekunde nutzbar zu machen. Schließlich geht es um einen Teil unserer Lebenszeit oder, wie es der Psychologe und Zeitforscher Robert Levine ausdrückt: "Unsere Zeit ist unser Leben."
Also füllen sich die Menschen die Taschen und die Autos immer voller, um für alle Wartefälle gerüstet zu sein: Warten soll nicht länger verlorene, vergeudete Zeit sein. Das Handy macht es möglich - meistens allerdings sehr zum Nachteil aller, die gern lesen würden oder schreiben oder in Ruhe nachdenken. Am leichtesten scheinen sich diejenigen unter den Wartenden zu tun, die über Kopfhörer Musik hören, Podcasts, Sprachkurse oder Ähnliches - wobei die Mitwartenden allerdings ebenfalls zum Mithören verurteilt sind, wenn auch etwas weniger laut.
Die entscheidende Frage für den angehenden Wartekünstler ist also: Inwieweit besteht in der jeweiligen Wartesituation die Möglichkeit, Zeit zurückzuerobern? Lesen, ein Gespräch führen, Handarbeiten oder Maniküremaßnahmen sind nicht immer uneingeschränkt empfehlenswert. Was jedoch unter allen Umständen bleibt, ist der Rückzug in die geistige Welt. Störungen von außen, die dabei wohl nie ganz zu vermeiden sind, werden von Meditationsmeistern als willkommene Stärkung begrüßt.
Den Gefühlen nachspüren. Zur Besinnung gekommen, drängt sich als erstes die Frage auf, ob das, worauf man wartet, tatsächlich unbedingt sein muss. Die Frage hat schon so manche Wartezeit abrupt auf null reduziert.
Manche Psychologen empfehlen, während des Wartens den Gefühlen nachzuspüren und die Aufmerksamkeit dem Atem und dem Herz zu schenken. Dabei wird man es wohl bestätigt finden: Man ist beim Warten, obwohl man nichts zu tun hat, meist auf sehr Kräfte raubende Weise angespannt. Vielleicht schwingt da ja noch die frühere Bedeutung des Wartens als stilles Verharren in Gefahrensituationen und bei der Jagd mit. Warten, das hieß ursprünglich Ausschau halten, aufpassen, wachen, bewachen.
Ein einfacher Worttest zeigt, was Warten tatsächlich für uns bedeutet. Leiden - wie fühlt sich das Wort an? Und wie das Wort Gewalt? Die Vorstellungen, die in den Wörtern stecken, üben eine erstaunliche Wirkung aus. Ohnmacht - wie fühlt sich das an? Und Hilflosigkeit und Groll? Frei! Aufatmen! Freude, Glück - sie lösen andere Reaktionen aus.
Und nun: Warten. Wie fühlt sich das an? Warteschleife, Warteschlange, Warteliste, Wartezimmer - was lösen sie im Körper aus? Warteraum, Wartehäuschen, Wartehalle, Wartesaal - welche Reaktionen sind mit ihnen verbunden? Und nur so zum Vergleich: seinen Unmut kundtun, reklamieren, protestieren, sich wehren, sich behaupten, sich zu helfen wissen - wie fühlt sich DAS an?