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"Wiener Zeitung": Frau Dzengel, was verrät Ihnen die Handschrift über einen Menschen?Claudia Dzengel: Zunächst stelle ich mir allgemeine Fragen wie die, ob es sich um einen Mann oder eine Frau, einen alten oder jungen Menschen handelt. Die Antworten darauf würde ich aber eher als intuitiv bezeichnen. Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich jedoch am Schriftrhythmus ablesen, wie ausgeglichen oder selbstbewusst jemand ist. In der Handschrift zeigen sich Gemütslage und Charakter des Autors.
Ein Beispiel bitte.
Wenn ich auf der Suche nach einem Restaurant bin, betrachte ich zunächst die handgeschriebene Tafel mit der Speisekarte vor dem Lokal. Dabei gilt mein Blick nicht den Gerichten, die dort angeboten werden, sondern der Handschrift. Dann weiß ich nämlich, wie es in der Küche des Restaurants aussieht.
Ist die Gleichung so einfach: Schöne Handschrift garantiert gutes Essen?
Ja, meiner Erfahrung nach ist es tatsächlich so einfach, wenn auch zweifellos subjektiv. Ist die Speisekarte in einer ansprechenden Handschrift verfasst, kann das Essen qualitativ gar nicht schlecht sein. Denn die Handschrift lässt Rückschlüsse auf das Restaurantpersonal und dessen Charakter zu; letztlich ist es eine Visitenkarte für das Lokal. Oder ein anderes Beispiel: Ich kann mich noch gut an meinen Professor Gottfried Pott erinnern, der die Schrift eines Kommilitonen mit den Worten kommentierte: "Ich sehe dieses Blatt - und weiß, wie es bei Ihnen zu Hause aussieht." In diesem Fall drückte sich bereits im Schriftbild des Mannes ein chaotischer Charakterzug aus.
Wenn heutzutage hauptsächlich per SMS und Mail kommuniziert wird, entwickeln doch die meisten Menschen zwangsläufig eine "Sauklaue"!?
In Zeiten von Smartphones und Laptops verkümmert die Handschrift sicher. Die Älteren können immerhin noch auf eine gefestigte Basis zurückgreifen. Wer längere Zeit nichts geschrieben hat, sich dann aber wieder damit beschäftigt, findet auch wieder ins Schreiben hinein. Wenn ein Mensch aber nur noch selten zum Stift greift . . .
. . . verkrampft das Handgelenk bereits nach kurzer Zeit . . .
. . . was sich auf das Schriftbild überträgt: Die Buchstabenfolgen sehen nicht mehr so rhythmisch aus, sie wirken abgehackt und holprig, weil der Fluss fehlt. Damit wir uns aber nicht missverstehen: Es muss gewiss nicht jeder eine Schönschrift haben, er sollte seine Schrift aber zumindest noch selbst lesen können.
Ist es wirklich schlimm, wenn unsere Handschrift verkümmert?
Ich glaube schon. Die Handschrift hängt ja eng mit der Sprach- und Schreiberziehung unserer Kindheit zusammen. Schreiben zu lernen ist für die meisten Menschen ein anstrengender, zugleich aber lebensnotwendiger Prozess. Schreiben gehört nun einmal zu den herausragenden Kulturleistungen.
Aber es ist ja nicht die Schrift, die ausstirbt. Wie alt ist unsere allgemein praktizierte Handschrift überhaupt?
Im Vergleich zur Schrift an sich ist die praktizierte Handschrift tatsächlich erst wenige hundert Jahre alt, und ihre Entwicklung hing eng mit Faktoren wie der Verfügbarkeit von Papier und der allgemeinen Schulbildung zusammen. Ich habe auch gewiss nicht die Absicht, eine Grabrede auf die Handschrift zu halten, für ein gefährdetes Kulturgut halte ich sie allerdings schon.
Sie haben die Schlüsselwörter Schule und Bildung angesprochen. Lässt sich die Entwicklung nicht gerade hier als natürliche Anpassung an das digitale Leben betrachten?
Neue Medien bringen neue Möglichkeiten mit sich, ganz klar, gerade in der Schule. So wird zum Beispiel die klassische grüne Kreidetafel im Klassenzimmer heute bereits teilweise durch ein Whiteboard ersetzt. Dabei handelt es sich um eine digitale Tafel, auf der man noch normal schreiben kann, zugleich ist sie aber wie ein Computer bedienbar und bietet viele Präsentationsmöglichkeiten. Medien, Fotos und Videos lassen sich so viel einfacher in den Unterricht integrieren.
Wie wirkt sich denn das Benutzen von Tastatur und Stift auf Wahrnehmungs- und Denkformen aus?
Prinzipiell berühren die Finger die Tastatur nur flüchtig, während die Bewegung beim Schreiben und Formen der Buchstaben von Hand mehr Komplexität erfordert; sie ist inniger und vollendeter. Durch das Mitgehen der Finger beim Schreiben werden zudem andere Denkprozesse angeregt als beim Tippen auf der Tastatur.
Auch am Computer muss man sich Gedanken machen . . .
Selbstverständlich. Am Rechner lässt sich das Geschriebene aber schneller und bequemer durch die Copy-and-paste-Funktion austauschen. Für Orthographiefehler gibt es zudem noch das Rechtschreibprogramm. Ebenso lässt sich Handschriftliches natürlich durchstreichen. Generell jedoch sind Kinder beim Benutzen eines Stiftes bereits von vornherein gezwungen, darüber nachzudenken, was sie überhaupt zu Papier bringen wollen. Das logische Denken wird auf diese Weise stärker gefördert. Zusätzlich prägen sich zuerst die Buchstaben ein, später bleibt das Geschriebene und damit der Lernstoff besser in Erinnerung. Wenn Kinder mit der Hand schreiben, lernen sie also letztlich besser.
Was vermitteln Sie Kindern in Ihren Workshops?
Dass Schreiben Spaß macht und nicht nur eine Fleißaufgabe ist. Es gibt viele lockere und experimentelle Schreibübungen, welche die Fantasie der Kinder anregen.
Was verstehen Sie unter experimentellen Schreibübungen?
Das sind zum Beispiel rhythmische Übungen, die zwar letztendlich das Ziel haben, die Handschrift zu fördern, bei denen es aber nicht darum geht, die Buchstaben fein säuberlich nacheinander zu Papier zu bringen. Wir benutzen unterschiedliche Schreibwerkzeuge wie Zimmermannsbleistifte, Strohhalme oder Zahnbürsten. Die Schrift steht also im Vordergrund, die Lesbarkeit ist aber nicht das oberste Prinzip dieser Übungen.
Sondern?
Wir arbeiten mit Schwüngen, Schlaufen und Schleifen, also im Grunde immer wieder mit den gleichen Bewegungen aus der Handschrift heraus. Allerdings schreiben wir nicht grundsätzlich von links nach rechts, sondern auch von rechts nach links, von oben nach unten - oder auch mit geschlossenen Augen!
Und damit wird jede Schrift schöner?
Der Schreibduktus wird regelmäßiger, die Schrift kippt weniger hin und her. Das kann wirklich jeder lernen. Fleiß braucht es allerdings schon, vor allem dann, wenn jemand an den Proportionen seiner Buchstaben arbeiten will, weil sich zum Beispiel n und u nicht unterscheiden oder aber die Buchstaben nicht oder zu wenig miteinander verbunden sind.
Was gefällt Ihnen persönlich am Schreiben?
Für mich hat das Schreiben meditativen Charakter. Mit der Hand zu schreiben bedeutet, mir Zeit zu nehmen, um über das nachzudenken, was ich zu Papier bringen will. Und selbst wenn es mich manchmal Überwindung kostet, mich hinzusetzen: In dem Moment, wo sich Geist und Finger verbinden, Lockerheit ins Handgelenk kommt und der Stift über das Papier gleitet, entspanne ich mich total. Für mich hat das Schreiben mit der Hand eindeutig therapeutische Wirkung, es ist noch besser als Tanzen oder Yoga!
Ist das bewusste Schreiben mit der Hand eine Lebenseinstellung?
Auf jeden Fall. So, wie es gewiss viele Leute gibt, die kaum noch mit der Hand schreiben und sich eine Welt ohne Handschrift problemlos vorstellen können, hat sich inzwischen auch eine Gegenbewegung gebildet. Dazu gehören Menschen, die eine Sehnsucht nach dem Authentischen empfinden, die sich bewusst Zeit nehmen wollen. Genau das bedeutet ja, etwas mit der Hand zu schreiben: Zeit, um über etwas nachzudenken und diese Überlegungen dann in Worte zu fassen. Weil Zeit für uns etwas Kostbares geworden ist, sende ich mit einer persönlichen Karte, die ich jemandem schicke, ein besonderes Signal. Nach einem Streit zwischen Freunden bekommt ein von Hand geschriebener Brief, vielleicht mit schwarzer oder blauer Tinte, eine Dringlichkeit und Intensität, die sich per Mail nicht erreichen lässt.
Was bedeutet Ihnen Ihre eigene Hand?
Neben all den Alltagstätigkeiten, bei denen mir meine Hände hilfreich sind, drückt meine rechte Hand sehr viel von mir selbst aus. Über meine Hand zeige ich meine Persönlichkeit, gerade auch in meinen Bildern. Meine Schreibhand leistet mir aber noch einen weiteren sehr wertvollen Dienst: Ich bin ein impulsiver Mensch und rede gern drauflos. Dabei sage ich mitunter Dinge, die ich mir im Nachhinein gern noch ein zweites Mal überlegt hätte. Beim Schreiben nehme ich mir diese Zeit und lasse meine Gedanken bewusst den Weg vom Geist über die Hand gehen.
Sonja Panthöfer, geboren 1967, arbeitet als Journalistin, Coach und Lehrerin in München.
Claudia Dzengel, geboren 1968 in Hildesheim (D), ist Diplom-Designerin und Kalligrafin. Während ihres Studiums an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim entdeckte sie ihre Liebe zu historischen Schriften und zur Kalligrafie, also der Kunst des "Schönschreibens" von Hand mit Federkiel, Pinsel, Rohrfeder und anderen Schreibwerkzeugen.
Für Claudia Dzengel, die seit 18 Jahren in Wien lebt, ist Kalligrafie freilich mehr, nämlich "ausdrucksvolles Schreiben". Die von ihr angebotenen Seminare kombinieren freie, rhythmische Schreibübungen mit dem Erlernen historischer Schriften und ermöglichen es Erwachsenen und Kindern, ihre Handschrift neu zu entdecken und damit zu experimentieren.
Im September 2013 erscheint Claudia Dzengels Buch "Kalligrafie und Kreatives Schreiben für Kinder" im G & G Verlag.
www.claudia-dzengel.com