Nicht die Schönschrift, sondern Motorik soll künftig im Mittelpunkt stehen.
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Wien. Ganz langsam setzt der sechsjährige Oliver beim Schreiben seines Namens zum "O" an. Mehrmals hält er inne auf dieser Reise vom Anfangs- zum Endpunkt, bis er schließlich den Kreis schließt. Das Ergebnis: ein zittriges "O" mit zahlreichen Dellen. Für einen Volksschüler freilich typisch und eine gute Leistung. Dass Schreibenlernen allerdings schneller und effektiver möglich ist, hat ein Wiener Pilotprojekt gezeigt, das im Herbst des Vorjahres gestartet ist und dessen Ergebnisse nun vorliegen. Die Pädagogische Hochschule (PH) Wien, die das Projekt wissenschaftlich begleitete, hat bereits angekündigt, die neue Methodik ab dem kommenden Schuljahr in die Deutschdidaktik-Ausbildung einfließen zu lassen.
Die Basis ist ein völlig neuer Zugang zum Schreibenlernen: Nicht die Schönschrift, sondern die Motorik soll künftig im Mittelpunkt stehen. Im Zuge des Pilotprojektes wurden daher Erstklässler aus Wien-Liesing einmal wöchentlich motorisch trainiert. Zwei Klassen fungierten als Projektgruppe. Eine weitere, in der die Schüler wie bisher unterrichtet wurden - darunter Oliver -, diente zum Vergleich. Die Kinder der Projektklassen mussten zum Beispiel ohne abzusetzen die Zacken und Zähne eines Krokodils nachzeichnen - und in diesen "M", "W", "N" und "V" erkennen. "Es geht um das bildliche Verständnis der Buchstaben und nicht um langsames Schönschreiben", erklärte Sensomotorik-Experte Christian Marquardt am Mittwoch vor Journalisten. Er begleitete das in Kooperation mit einem Stiftehersteller ("Schwan-Stabilo") durchgeführte Projekt.
Im Laufe des ersten Schulhalbjahres 2011/12 wurden die Kinder vier Mal getestet. Mit einem speziellen Stift gaben sie Schreibproben auf einem grafischen Tablet-Computer ab, der Schreibgeschwindigkeit und -druck maß. Das Ergebnis: "Die Schüler der Projektklassen schrieben doppelt so schnell", so Marquardt.
Schnell und schön
Künftig also schon ab der Ersten schnelles, dafür nicht schönes Schreiben? "Das eine schließt das andere nicht aus", meint dazu PH-Institutsleiterin Margit Heissenberger. Vielmehr werde zusätzlich schon von der ersten Volksschule an mehr auf die Bewegung geachtet, die Form trete dabei nicht in den Hintergrund. Die Schüler würden dadurch zwar mehr gefordert, entwickelten aber rascher ihr eigenes Schriftbild. "Wer hingegen von Anfang an extrem schön schreiben soll, wird auf Langsamkeit trainiert. In der Dritten soll er dann plötzlich schnell schreiben - und die Schrift bricht auseinander", ergänzt Marquardt.
"Um die neue Methodik in den Schulalltag hineinzubringen, stellen wir bereits ein Team auf", sagt Heissenberger. Gleichzeitig arbeite man in Zusammenarbeit mit dem Stadtschulrat an Fortbildungskonzepten wie etwa Workshops zu dem Thema; auch eine internationale Studie sei geplant.
Nicht alle sind jedoch vom neuen Schreibenlernen überzeugt: Vor allem die Schwächeren wie Legastheniker könnten auf der Strecke bleiben. "Bei Teilleistungsschwächen im optischen Bereich steht der Buchstabe im Vordergrund: Er muss immer wieder schön und langsam nachgezeichnet werden, damit ihn sich die Kinder einprägen", meint etwa die diplomierte Legasthenietrainerin Barbara Libal. Das mache zwangsläufig langsamer. Zieht der Rest der Klasse durch schnelles Schreiben weg, würden schwächere Kinder noch frustrierter und unmotivierter. Weil sie zum Beispiel für ein "O" doppelt so lange brauchen - und das noch dazu zittrig ist.