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Schrift ist Liebe - Liebe ist Schrift

Von Jochen Jung

Reflexionen

Schrift ist, nach der Sprache unser wesentliches Verständigungsmittel. Eine Liebeserklärung an die Welt der Zeichen.


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<p>So lange ist es noch gar nicht her, gerade einmal ein paar Jahrzehnte oder Jahrhunderte, da wusste jeder, dass, wenn von "der Schrift" geredet wurde, nicht irgendwelches Gekritzel, sondern die Heilige Schrift gemeint war, die Bibel. Nicht, dass es nichts anderes Geschriebenes gegeben hätte, aber die Mehrheit sah es nicht, das war nur am Hofe oder im Kloster zu finden, wo es die einzigen Schriftkundigen gab, die mit selbstlosem Fleiß und unfassbarer bildnerischer Phantasie auf leicht welligem Pergament die wunderbarsten Inkunabeln anfertigten. Sie haben uns nicht nur die heiligen Texte, sondern ebenso die freilich nicht weniger heiligen der antiken Philosophen oder der altgermanischen Heldensagen überliefert. Gehen wir einmal davon aus, dass es eine befriedigendere Arbeit war als die, die heute in manchen Sekretariaten geleistet werden muss.<p>

Schrift will Aufmerksamkeit

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Handschriften sind ähnlich verschieden wie Physiognomien . . .
© Arman Zhenikeyev/Corbis

<p>Schrift verbindet. Ein Jemand, der auch eine größere Einheit sein kann wie etwa der Staat, die Kirche, die Asfinag, teilt etwas mit, was für beide Beteiligten von Bedeutung, vielleicht sogar Wichtigkeit ist. Das geht nur mit Hilfe der Schrift. Schrift will Aufmerksamkeit und Wahrnehmung, was auch heißt: Man muss sie beherrschen. (Gleich hier ein Memento für die unfassbar zahllosen heimlichen Analphabeten.) Und für eine Welt, in der der Umgang mit sogenannten Rechnern, die ja eher Schreiber sind, längst überlebenswichtig geworden ist, gilt das noch mehr.<p>Schrift ist (noch) nicht Sprache, sie ist "nur" deren Transportmittel. Sie kann altmodisch (Fraktur) und modern und streng aussehen (Grotesk), edel und vornehm (Bodoni, Walbaum - ja, so schöne Namen können die zum Teil schon vor Jahrhunderten mit großem ästhetischem Ehrgeiz entworfenen Schriften im Druckereiwesen haben!), sanft und verspielt (die Kursiven), sperrig und herzlich und alles andere auch (wenn sie mit der Hand geschrieben sind).<p>Die Schrift nimmt grundsätzlich keine Rücksicht auf den Inhalt: Ob man ein neues Waschmittel, eine Oper oder den Krieg verkündet, ob man sich mit einer Todesnachricht an Verwandte richtet oder mit Begeisterung an die Geliebte oder scheinbar gelassen "An meine Völker!" - die Schrift bleibt, wenn die Hand nicht zittert, in der Regel gleich und ungerührt von dem, wovon sie spricht. Gleichzeitig kann sie, ebenfalls unabhängig vom Inhalt, voller Ungeduld auf einem Einkaufszettel auftreten, aber auch als nicht sie selbst gedankenverloren auf dem Notizblock neben dem Telefon, wo sie bisweilen auf der Suche nach ihren hieroglyphischen Vorfahren zu sein scheint.<p>Kürzlich stand ich im Innsbrucker Ferdinandeum vor einer wunderbaren Porphyrstele, auf der in - wie ich inzwischen weiß - etruskisch-rasenischer Schrift, die von weitem an Runen erinnert und einer keltisch-rätischen Sprachwelt verbunden ist, die drei rätselhaften Wörter pnake vitamu latem stehen, was für mich zunächst wie eine geheimnisvolle Lebensformel aus der Zeit vor der Erschaffung der Welt klang und offenbar eines verstorbenen Helden gedenkt. Schrift kann eben manchmal auch zu uns sprechen, wenn wir sie nicht verstehen.<p>Wem von uns Reisefreudigen wäre das noch nicht widerfahren, im Nahen oder Fernen Osten, im Norden Afrikas, in Israel, Serbien oder Russland oder in Griechenland, nämlich, dass er/sie auf einem Flughafen gelandet ist, und der gerade auf Reisen immer nach zu Lesendem suchende Blick fällt auf große Werbetafeln mit freundlich zurücklächelnden Gesichtern, wie wir sie ähnlich von Zuhause kennen, neben denen aber etwas geschrieben steht, was wir absolut nicht lesen können, in einer Schrift, die wir zwar erwartet haben und vielleicht sogar als anregende Begrüßung nehmen, die uns aber dennoch gewissermaßen allein lässt. Steigt man dann in den Bus oder ins Taxi und fährt auf die Zubringerautobahn, dann begegnen einem zwar Wegweiser, auf denen neben den fremden Zeichen auch Athen oder Tokio steht, und doch: Was ist seltsamer als ein informierender Hinweis, der einem nichts sagt?<p>

Jesus und Hammurabi sprechen zu uns

<p>Andererseits: Was ist seltsamer als der in die Fremde reisende Tourist, der erwartet, dass die ganze Welt nach seinen Bedürfnissen eingerichtet ist? Und was ist wahrhaftiger als die fremde Schrift eines fremden Landes, die uns signalisiert: Was dir auch immer dein Reiseführer erzählt haben mag: Wir sind anders, bemüh dich, uns zu begreifen.<p>

<p>Schrift ist, nach der Sprache, die sie weitergibt, unser wesentliches Verständigungsmittel. Dies hier ist zwar kein Wikipedia-Artikel (und will ihn auch nicht ersetzen), aber so viel sei vorab festgehalten: Schrift ist ein System von Zeichen, mit deren Hilfe wir Wörter und Sätze fixieren, mit deren Hilfe wir Zeit- und Ortsgrenzen überwinden und den Augen ermöglichen, was den Ohren verwehrt ist.<p>So können wir hier, also da, wo wir gerade sind, erfahren, was uns jemand aus New York oder Kleinmöseldorf mitteilen möchte, und wir können lesen, was uns Goethe, Cäsar, Jesus und Hammurabi nicht mehr sagen können.<p>So schwer es auch sein mag: Fremde Schriften lassen sich lernen. Wir haben Lehr- oder Schulbücher und im besten Fall einen native writer - und üben. Aber nicht immer genügt das: Es gibt auch die mit Absicht für andere unlesbar entworfenen Geheimschriften, und nicht für jede ist eine Enigma zum Entziffern bereit. (Seltsam übrigens, dass wir mit diesem Wort so tun, als handle es sich dabei ausschließlich um Zahlen - eigentlich müsste es doch "Entbuchstabieren" heißen. . .).<p>

Die Briefe meines Vaters

<p>Vor allem aber gibt es, und nicht nur bei Ärzten, die unlesbare Handschrift. Als meine Mutter starb, fand ich einen Stoß von Briefen, die mein Vater ihr in den letzten Kriegsjahren geschrieben hatte. Er hat als Zahnarzt auf einem Fliegerhorst in der Nähe von Berlin gearbeitet, geriet 1945 in sowjetische Gefangenschaft und starb bald darauf in einem Lager in Estland. Endlich hatte ich die Chance, etwas mehr von meinem Vater zu erfahren als die wenigen immer gleichen Geschichten, die in der Familie über ihn erzählt wurden.<p>Eine alte Freundin transkribierte mir einen Brief - seine Handschrift war sehr klein und vor allem eine Mischung als lateinischen und Sütterlin-Buchstaben, für mich vollkommen unlesbar. Was ich jetzt las, machte mich nur umso neugieriger, ich suchte weiter nach Hilfe und fand sie schließlich bei einem Mitarbeiter der Hamburger Klopstock- Ausgabe, der im Entziffern von fremden Schriften geübt war.

<p>Aber die handgeschriebenen Briefe meines Vaters informierten mich nicht nur über seine politische Haltung, die militärische Lage und das Leben unter Kriegspiloten in jenen Jahren, es waren natürlich auch Liebesbriefe und also von Anfang an für ein bestimmtes Augenpaar geschrieben, das mit seiner Schrift gut zurechtkam. Und natürlich waren es nicht Liebesbriefe werbender Art, sondern die bestätigenden, versichernden eines Ehemannes an seine Ehefrau.<p>Der nur eben auch mein Vater war, und ich fand mich nicht indiskret (oder nur wenig), sondern ich fand, dass ich durchaus ein Anrecht darauf hatte, etwas über diesen Mann zu wissen. So saß ich denn da mit den Papierblättern in der Hand, die auch er in der Hand gehabt hatte, ich verglich seine Schrift mit der Abschrift, staunte über die Gleichmäßigkeit der dahinerzählenden Schrift, ich sah die Gelassenheit der gleichmäßigen Buchstaben, die so gar nichts von links und rechts fallenden Bomben ahnen ließ, und ich suchte nach Absonderlichkeiten des Schriftbildes, die mir etwas von der Individualität des Schreibers hätte sagen können. Aber in gewissem Sinne war das Persönliche bereits im Historischen aufgegangen, ja, es war ein Schriftbild aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts und es war die Schrift der Hand meines Vaters.<p>Man muss kein Graphologe sein, um zu denken, dass die Handschrift etwas mit der schreibenden Person zu tun hat. Handschriften sind ja ähnlich verschieden wie Physiognomien (und sie altern auch wie diese: Manchmal staune ich vor vergrauten Mitschriften aus der Studienzeit darüber, wie ich damals das große J oder das kleine b geschrieben habe). Was seltsam genug ist, wenn man bedenkt, dass da zunächst einmal zwanzig, dreißig Erstklässler beieinander sitzen - von denen höchstens fünf Prozent schon schreiben können.<p>Sie alle bekommen dieselben stark schematisierten Buchstaben im doppelten Sinn vorgeschrieben, die sie als sogenannte Schönschrift nachmachen sollen, wobei im Laufe weniger Jahre das Schöne, Gleichförmige sich durch - im Urteil des Lehrers - Verhässlichung auf dem Wege von der Schönheit zum Charakter immer eigenwilliger und eigenartiger, also individueller entwickelt und am Ende das, was Anna und Franz geschrieben haben, nicht mehr verwechselt wird, bis dann Johanna und Franziskus als Erwachsene mit ihrer handgefertigten Unterschrift auch vor dem Gesetz ein unverwechselbares Signum haben, das wie ein Fingerabdruck nur ihnen gehört und für sie steht. Wobei man davon ausgeht, dass ein anderer die Buchstabenfolge des Namens, selbst wenn er auch Meier oder Schmidt heißt, nie so hinbekommen würde, weil die Art unseres Schreibens uns derart in Fleisch und Blut übergeht wie nicht einmal Gang und Mimik. Höchstens - die Liebe.<p>Ehe jedoch davon die Rede ist, soll hier noch auf ein paar Schriftzüge hingewiesen werden, die ähnlich eigenwillig und bisweilen schwer entzifferbar sind. So hat zum Beispiel das Meer eine nicht leicht zu lesende Schrift, wenn es mit sanfter Welle den Strand hinaufläuft, um dann beim Hinabrinnen eine seltsame Sandlinie zu hinterlassen, mit Muschelresten und Tangsplittern als Satzzeichen, der ich ansehe, dass sie gelesen werden möchte und deren Botschaft ich zwar ahne, aber nicht jedes Mal und wörtlich nachsprechen könnte. Ähnlich ergeht es mir bei mancher Schmelzspur im Frühling.<p>Die Sterne, so sehr ich sie liebe, werden mir eine Fremdsprache bleiben - ebenso wie die Wolken und die Vogelscharen. Auf die Idee der Auguren, in den Eingeweiden geschlachteter Tiere eine Nachricht über unsere Zukunft zu vermuten, die man lesen kann, wäre ich freilich nie gekommen, was ja noch kein Zeichen von Intelligenz ist, so wenig wie das fingerfertige Computerschreiben oder -lesen. Seien wir einfach froh, dass die Druckschrift erfunden wurde und Sie das hier nicht in meiner Handschrift lesen müssen.<p>

Mit Bleistift auf Briefpapier

<p>Es bleibt dabei: Vor dem Lesen kommt das Schreiben, was in meinem Fall heißt, mit dem Bleistift, am liebsten einem gefundenen mit überraschender Aufschrift (im Augenblick, ich gestehe, ist es einer, den ich in London in einem Geschäft von der Theke geklaut habe). Geschrieben wird dann am liebsten auf einem Briefpapier aus einem Hotel, in dem ich gern war und an das ich mich gern erinnere, denn nicht nur Geschriebenes, sondern auch dessen Träger hat seinen Zauber. Wie auch immer, am Ende wird das dann korrigierend in den Mac getippt.<p>Vielleicht ist dies auch der Platz, um die Idee Schrift mit dem Begriff Spur zu ergänzen. Denn alles Geschriebene ist auch als Spur eines Denkens zu verstehen: Es geht etwas durch den Kopf, eckt hier und da an, begegnet anderem, formt sich um, gleicht sich an und findet schließlich die eine, gesuchte, entsprechende Form, die festgehalten werden will; erst einmal rasch, im Schnellverfahren, als Notiz mit der Hand sozusagen flüchtig festgehalten, eben als Spur von etwas Längerem, Ausführlicherem, was dann später noch ausgearbeitet wird.<p>Ob ein solcher Merkzettel dann gleich in den Papierkorb wandert oder am Ende doch den Weg in ein Museum oder Literaturarchiv findet, entscheidet - wie so vieles in der Welt des Geschriebenen - der Zufall.<p>Liebesbriefe können gelegentlich auch auf feinstem Büttenpapier geschrieben (oder vielleicht auch mit Herzblut gemalt) werden. Bisweilen aber ist es auch nur eine Art Zettelwirtschaft. Das Bedürfnis, die Liebe als Geheimnis zu hüten, das niemanden über das Paar hinaus etwas angeht, kann zu einer Art von Briefen führen, die man nur noch mit Schmier- und Schummelzetteln fauler Schüler oder den Kassibern von Sträflingen vergleichen kann, die in Gefängnissen von jeder freien Kommunikation abgeschnitten sind. In jedem Fall signalisiert gerade die Ärmlichkeit des Schriftstücks Bedürftigkeit und Lebenswillen. Das verleiht Liebesgrüßen den Charakter eines Hilferufs und scheint, wenn auch nicht in den Augen der Lehrerin oder Ehefrau, selbst Betrug verständlich zu machen.<p>

Reliquienhafte Schriftstücke

<p>Liebesbriefe werden gern "liebevoll" gebündelt und im Verborgenen aufgehoben, wo sie etwas Reliquienhaftes bewahren, wohingegen Rechnungen, hand- oder maschinengeschrieben, nach Verstreichen der Amtsfrist vernichtet, richtiger: entsorgt werden. Ebenso reliquienhaft, also in gewissem Sinne auch heilig empfand ich die Blätter, die ich einmal in Frankfurter Goethehaus in einer Vitrine sah: Abschriften in der sehr schönen und schwungvollen Handschrift des Dichters von Strophen seines "West-östlichen Divan" für seine geliebte Suleika Marianne von Willemer. Daneben lag ein Kissen, auf das Marianne für ihren Hatem einen arabischen Schriftzug gestickt hatte<p>Schrift ist Mitteilung, also Zuwendung, zunächst ganz unabhängig vom Inhalt. Man wendet sich an jemanden, der/die (noch) nicht (mehr) da ist, hält fest, gibt weiter und überliefert, was bestenfalls beiden wichtig ist. Schönstenfalls ist das Schreiben dann aber auch anstiftend, lockend, ja umarmend, also Zuneigung, wenn die Nachricht eine Botschaft ist, der Erwartung, ja Sehnsucht entgegenkommen. Da spielt dann auch kaum noch eine Rolle, wie etwas geschrieben wird, wenn nur überhaupt ein Zeichen kommt, das sich immer wieder lesen lässt. Ist es aber schön formuliert, ist es schön für viele; es muss ja nicht immer Goethe sein, jetzt aber schon. Nämlich:<p>"Was auch als Wahrheit oder Fabel
In tausend Büchern dir erscheint,
Das alles ist ein Turm zu Babel,
Wenn es die Liebe nicht vereint."

Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt a. M., ist österreichischer Verleger (Verlag Jung und Jung, Salzburg) und Schriftsteller (zuletzt "Zwischen Ohlsdorf und Chaville", Haymon 2015).