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Gehen erlebt in den letzten Jahren eine Art Renaissance und wird gerne mit philosophischen und heilsamen Bedeutungen "existenziell aufgeladen". - Eine kleine Kulturgeschichte der natürlichsten Fortbewegungsart.
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Eigentlich, so möchte man meinen, ist das doch ganz einfach mit dem Gehen. Es handelt sich um "ein komplexes Zusammenspiel von Bewegungen der Gelenke, selektiv gesteuerter Aktivität der Muskeln und Positionswahrnehmung, die es einem Menschen ermöglichen, sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit in eine von ihm gewählte Richtung zu bewegen". Das sagt die Amerikanerin Jacquelin Perry, die bis heute als "Gangpäpstin" gilt und im letzten Jahr hoch betagt starb. Sie hat ein Standardwerk zum Thema verfasst, das auf Deutsche antiquarisch für fast 500 Euro gehandelt wird.
Mechanik des Gehens
Die Definition klingt so wenig aufregend wie der Vorgang als solcher, und irgendwie scheint man das alles auch schon vor über 150 Jahren gewusst zu haben. "Wir verstehen unter dem natürlichen Gang denjenigen, den wir unwillkührlich wählen, ohne auf die einzelnen Schritte zu achten, blos in der Absicht um fortzukommen. Wer auf Reisen Tage lang fortgeht, wird immer so gehen, weil man so am wenigsten ermüdet. Die Geschwindigkeit dabei kann sehr verschieden seyn; doch pflegt sie, ohne unsere Absicht, sich nicht zu ändern."
1836 legten die Göttinger Brüder Eduard und Wilhelm Weber eine "Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge" vor, in der sie mittels wissenschaftlich-experimenteller Methoden und Hilfsmittel (die sie übrigens zum Teil aus der Astronomie übernommen hatten, etwa ein Fernrohr) versuchten, den "aufrechten Gang" rein bewegungsphysiologisch zu betrachten, isoliert von allen kulturellen und sonstigen Faktoren.
In Deutschland und in Frankreich entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine richtiggehende "Wissenschaft vom Gehen", die nicht nur verstehen wollte, wie der Mensch nun genau einen Schritt vor den anderen setzt, sondern durchaus auch Ideale der "Gleichförmigkeit, Reibungslosigkeit und Kraftersparnis" verfolgte - nicht zuletzt mit Blick auf die marschierenden Soldaten und deren Einsatzfähigkeit.
Von Honoré de Balzac stammt aus genau dieser Zeit ein kurzer Text mit dem Titel "Théorie de la démarche", der in Gestalt eines pseudowissenschaftlichen Traktats diese bewegungsphysiologischen Erkenntnisbemühungen nicht nur karikiert - so soll man anhand bestimmter Gangarten die soziale Stellung des oder der Gehenden ermitteln können -, sondern sie letztlich auch - neumodisch ausgedrückt - dekonstruiert: "Ich stellte mir die Frage, von wo die Bewegung ihren Ausgang nimmt. Nun, festzustellen, wo die Bewegung in uns beginnt und wo sie endet, ist ebenso schwer zu bestimmen wie der Anfangs- und Endpunkt des großen Sympathikus, jenes inneren Organs, das die Geduld so vieler Beobachter erschöpft hat. (. . .) Ist es nicht erschreckend, so viele unlösbare Probleme in einem gewöhnlichen Akt zu finden, in einer Bewegung, die achthunderttausend Pariser jeden Tag ausführen?"
Gehen versus Fahren
Das 19. Jahrhundert gehörte noch zu jener Zeit, als (fast) jeder zu Fuß ging, weil er schlicht keine andere Wahl hatte. Sobald die Menschen aber eine Wahl hatten, entschieden sie sich dafür, nicht zu gehen. Das begann in Ansätzen bereits im 18. Jahrhundert, als die vornehme Welt sich zunehmend in der Kutsche fortbewegte, während die breite Masse weiter per pedes unterwegs war. Die Frage "Fahren oder gehen?" markierte damit aber nicht einfach nur unterschiedliche Möglichkeiten, um von A nach B zu gelangen, sondern grundlegend verschiedene Existenzweisen.
Gleichzeitig war auf diese Weise aber auch der Grundstein gelegt für die existenzielle Aufladung des Gehens. Es wird zu einer Form der Welterfassung und Weltaneignung, es verschafft dem Gehenden Autonomie und Freiheit, der Akt des Gehens gerät letztlich sogar zur Zivilisationskritik: "Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft", postulierte Johann Gottfried Seume, der mit seinem Spaziergang nach Syrakus Berühmtheit erlangte, und fügte hinzu, "dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge".
Vor allem das Gehen und das Denken stehen spätestens seit Jean-Jacques Rousseau in einem engen Zusammenhang. Der französische Philosoph, der selbst unter einer "manie ambulatoire" litt und dem wir ein hübsches Büchlein mit dem Titel "Träumereien eines einsamen Spaziergängers" verdanken, verkündete in seinen "Bekenntnissen": "Niemals habe ich so viel gedacht, nie bin ich von der Tatsache meines Daseins, meines Lebens, und wenn ich so sagen darf, meines Ichs so erfüllt gewesen als auf meinen einsamen Fußwanderungen. Das Gehen hat etwas, was meine Gedanken erregt und belebt; wenn ich mich nicht bewege, kann ich kaum denken, mein Körper muss gewissermaßen in Schwung geraten, um auch meinen Geist zum Schwingen zu bringen."
Gehen und denken
Ähnliches erlebte der berühmte Denker-Kollege aus Dänemark, Sören Kierkegaard. Allerdings bewies er etwas mehr Selbstironie als der schwärmerische Rousseau: "Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen, und ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen los würde." Beim Kierkegaard-Verehrer Thomas Bernhard, dessen Helden stets manisch durch die Gegend stiefeln, führt der direkte Geh-Weg dann von der Straße nach Steinhof, aber das Verrücktsein ist bei ihm bekanntlich eher ein Zustand höherer Erkenntnis. "Wenn wir gehen, gehen wir von einer Ausweglosigkeit in die andere."
Dass sich der Rhythmus des Gehens buchstäblich in einen Gedanken-Rhythmus verwandelt, beweist der Komponist Erik Satie. Jeden Tag marschierte er von seiner Klause am Rand von Paris mehr als zwölf Kilometer zu seinen Stammcafés und machte dabei in zahlreichen Kneipen Station. Auf dem Heimweg, den er nicht selten schon ein wenig betrunken antrat, blieb er dann angeblich immer wieder unter den Straßenlaternen stehen und kritzelte seine musikalischen Ideen in ein Notizbuch.
Auch die heilende Wirkung des Gehens wird schon seit Jahrhunderten beschworen. Robert Burton etwa empfahl in seiner "Anatomy of Melancholy" (1621) die "deambulatio per amoena loca", das Wandeln durch schöne Landschaft, als Heilmittel gegen die Melancholie - und zitierte dabei den griechischen Autor Aretaios aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert.
Das Interessante daran ist, dass diese "Bedeutungsaufladung" des Gehens heute eine Art Renaissance erlebt. Rousseaus oben zitiertes Lob des Gehens etwa feiert auf den Internetseiten von Wandervereinen und Tourismusanbietern fröhliche Urständ’. Paradox könnte man formulieren: Je weniger gegangen wird, desto größer werden die Erwartungen an das Gehen. Statistischen Erhebungen zufolge legt man heute als gemeiner Mitteleuropäer in einem "Durchschnittsleben" (das 79,4 Jahre dauert) 820.000 Kilometer mit dem Auto zurück - und rund 25.000 zu Fuß.
Schon 1960 veröffentlichte ein Autor mit dem schönen Namen Ehrenfried Muthesius ein Buch mit dem Titel "Der letzte Fußgänger" und malte darin ein düsteres Zukunftsszenario: "Wer nicht motorisiert ist, zählt nicht mit (. . .) So ist vielleicht der Tag, an dem der letzte Fußgänger über die Erde schreitet, nicht fern." In den USA war diese Prophezeiung schon damals Realität, etwa in Los Angeles. In den 1970er Jahren musste John Paul Jones, Bassist der Band Led Zeppelin, erleben, wie die Polizei ihn verhaftete, als er es wagte, sein Hotelzimmer zu verlassen und durch die Straßen von L. A. zu spazieren.
Das sicherste Zeichen dafür, dass etwas in Gefahr ist zu verschwinden, ist die Tatsache, dass sich plötzlich spezielle Organisationen und Manifeste dafür stark machen. In den USA gibt es seit 2004 einen Geh-zur-Arbeit-Tag, der alljährlich am ersten Freitag im April im wahrsten Sinne des Wortes begangen wird. Daneben finden sich eine Europäische Charta der Fußgänger sowie natürlich ein Fachverband Fußverkehr Deutschland, kurz Fuß e.V.
Sie alle haben vor allem ein Ziel: Insbesondere die Städte sollen fußgängergerechter werden, damit sich wieder mehr Städter für das Gehen als metropolitane Fortbewegungsart entscheiden. Das aber funktioniert offenbar nur, wenn man dem Gehen einen gehörigen "Mehrwert" zuschreibt. So schwärmt John Butcher, der Gründer von Walk 21, der Weltorganisation der Fußgänger, die eine Internationale Charta für das Gehen veröffentlicht hat: "Das Gehen ist das Erste, was ein Kind tun will, und das Letzte, was ein alter Mensch aufgeben möchte. Gehen ist ein Fitnessprogramm, das keiner Turnhalle bedarf. Es ist das Rezept ohne Medizin, die Gewichtskontrolle ohne Diät und die Kosmetik, die in keiner Drogerie zu finden ist. Es ist das Beruhigungsmittel ohne Tablette, die Therapie ohne Psychoanalytiker und der Urlaub, der nicht einen Cent kostet. (. . .) Das Gehen ist so natürlich wie das Atmen."
Wenn das Gehen aber so natürlich ist, wie Butcher es beschreibt, warum wird dann so ein "Gewese" darum gemacht? Kann man nicht einfach nur gehen, ohne gleich nach Heilung, Erleuchtung oder Weltrettung zu streben? Und kann man nicht einfach nur Gefallen an den Vorzügen dieser Fortbewegungsart finden: an der gehspezifischen Wahrnehmung, an der Tatsache, dass man dabei sein eigener Chef ist? Oder anders gefragt: Wäre die Welt wirklich eine bessere, wenn wir alle uns in vermehrtem Maße mit Hilfe unserer "Körperkraftmobilität" fortbewegen würden?
Pilger-Boom
Würde man diese Frage im Norden Spaniens stellen, entlang des berühmten Jakobswegs nach Santiago de Compostela, so würde man darauf vermutlich nur eine Antwort bekommen: selbstverständlich. Im vorigen Jahr haben 215.000 Menschen die mehrere hundert Kilometer lange Pilgerreise absolviert. 1978 waren es gerade einmal 13 Pilger gewesen.
Natürlich ist daran auch Hape Kerkeling schuld, der mit seinem Erfahrungsbericht "Ich bin dann mal weg" (der soeben verfilmt wird) einen wahren Jakobsweg-Hype entfacht hat. Aber dass das Wandern als Glücks- und Heilsuche seit Jahren einen enormen Boom erlebt, hat vermutlich auch tiefere Gründe. Schon das Grimm’sche Wörterbuch definierte das Wandern als das "frohe durchstreifen der natur, um körper und geist zu erfrischen".
Der Reisejournalist Freddy Langer beschreibt den "Kick" des Weitwanderns so: "Loszuziehen mit all dem auf dem Rücken, was man in den kommenden Tagen braucht, vermittelt ein Moment von Freiheit, das sich keineswegs daraus speist, dem angeblich so geordneten Leben in Beruf und Familie zu entkommen in eine ungebändigte Welt, sondern eben umgekehrt vor der undurchschaubaren Tretmühle des Alltags in eine klar formulierte Aufgabe zu fliehen: das Ziel am Ende des Wegs zu erreichen. Dass man sich dabei Schritt für Schritt auch ganz anderen Erkenntnissen nähert, ist ein wunderbarer Nebeneffekt, für den sich in den vergangenen Jahren der Begriff der Entschleunigung durchgesetzt hat. . ."
Speers imaginäre Reise
Den Zustand, in den man dabei gerät, könnte man mit dem norwegischen Schriftsteller Tomas Espedal als "gesteigerte Gegenwärtigkeit" bezeichnen. Mit Sport hat das nur am Rande zu tun, denn das Wandern zielt, so der Tiroler Autor Alois Schöpf, "nicht auf ein konkretes Ziel ab, sondern auf das gute Leben als Ganzes".
Schöpf propagiert das Gehen als eine dem Yoga durchaus adäquate Meditationsform, die mit ihren Trance-Zuständen Körper und Geist auf ähnliche Weise zusammenführt wie die Atemtechnik des Pranayama, einer der wichtigsten Meditationsschulen. Und damit das Ganze nicht zweidimensional bleibt, spricht Schöpf gerade dem Bergwandern besondere Heilkraft zu.
Allerdings gibt es durchaus ernstzunehmende Einwände gegen die dritte Dimension, wie sie Henry David Thoreau - selbst ein Geher vor dem Herrn - formuliert hat: "Die Gipfel der Berge gehören zu den unvollendeten Teilen des Globus, deshalb ist es eine Beleidigung der Götter, in deren Geheimnisse einzudringen, nur um zu schauen, wie es dem Menschen bekommt." Es muss also nicht unbedingt immer nur nach oben gehen, auch das Mittelgebirge oder die Ebenen können für einen gesunden Geist in einem gesunden Körper sorgen.
Eine der wohl seltsamsten Wanderungen der Weltgeschichte unternahm ohne Zweifel Albert Speer, Hitlers ehemaliger Lieblingsarchitekt und Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Er beschloss 1954, von Berlin nach Heidelberg zu gehen. Das Pro-blem dabei war: Er war 1946 als NS-Kriegsverbrecher zu 20 Jahren Haft verurteilt worden, die er in voller Länge im Gefängnis von Berlin-Spandau absaß. Und so machte er sich also auf, jeden Tag die 270 Meter lange Runde im Gefängnishof so lange zu drehen, bis er auf ein Tagespensum von 7 Kilometern kam. Am 19. März 1955, seinem 50. Geburtstag, erreichte er auf seiner imaginären Reise schließlich Heidelberg, nach 2296 Runden im Hof. Doch damit nicht genug: Über München und Istanbul ging es weiter bis nach Asien.
"Unterwegs" passierte Speer auch Wien. Am 19. Juni 1955 notierte er: "Ich habe die letzten Kilometer nach Wien zurückgelegt und vom Kahlenberge aus die Stadt vor mir liegen sehen. Ich sah, in meiner Vorstellung natürlich, jene Stelle, wo Hitler nach dem Anschluss eine Tafel hatte anbringen lassen, wonach Wien eine Perle sei, der er eine richtige Fassung geben werde; die Wiener waren damals empört."
Nachdem ihn zwischen Salzburg und Wien ob der "stumpfsinnigen Rundendreherei" eine Krise heimgesucht hatte, begann er damit, sein Marschieren "anschaulich" zu machen: "Wenn ich genug Phantasie der Vergegenwärtigung entwickle, müsste sogar so etwas wie Vorfreude auf die Wanderung selbst herstellbar sein." Vermutlich müssen wir uns Albert Speer als glücklichen Menschen vorstellen. Glücklich durch Gehen.
Andreas Wirthensohn, geb. 1967, freier Lektor, Übersetzer, Literaturkritiker und ständiger Mitarbeiter des "extra", lebt in München.
Literatur zum Thema:Thomas Espedal: Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen. Berlin 2011.
Johann-Günther König: Zu Fuß. Eine Geschichte des Gehens. Stuttgart 2013.
Freddy Langer: Weitergehen. Auf berühmten Wegen und wunderlichen Pfaden. Hamburg 2012.
Andreas Mayer: Wissenschaft vom Gehen. Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2014.
Alois Schöpf: Glücklich durch Gehen. Über die Heilkraft des Bergwanderns. Innsbruck 2012.