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Schrott in der Umlaufbahn

Von Christian Pinter

Wissen

Schon wenige Tage nach dem Absturz der Raumfähre Columbia wurde vielfach spekuliert, ob vielleicht eine Beschädigung der Fähre durch Weltraumschrott die Tragödie ausgelöst haben könnte. Wirkliche Anhaltspunkte gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. Doch die Schnelligkeit, mit der das Thema Eingang in die Diskussion fand, unterstreicht: Das Risiko existiert. Rund 5.000 Satellitenstarts haben seit 1957 nämlich vor allem Abfall hinterlassen. Im erdnahen Weltraum kreisen heute 2.000 Tonnen Material - darunter zigtausend Geschosse, gegen die man sich nicht schützen kann.


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Überwachung

Ein Teil des orbitalen Schrotts lässt sich Abend für Abend mit eigenen Augen beobachten. Satelliten in 300 km Höhe und mehr baden noch im Licht der Sonne, wenn für Erdbewohner bereits die Nacht herein gebrochen ist. Meist tauchen die Lichtpunkte am Westhimmel auf und ziehen dann innerhalb weniger Minuten Richtung Osten. Einige übertreffen den Glanz der prominentesten Sterne. Vor allem der US-Shuttle und die internationale Raumstation ISS können auffallend hell strahlen.

Die Mehrzahl der Satelliten hat den Dienst längst beendet. Statistisch betrachtet, erblickt man also eher ein Stück Müll als eine funktionierende Maschine. Zeigt der Lichtpunkt rhythmischen Lichtwechsel, kann man praktisch gewiss sein, Schrott zu sehen. Denn anders als intakte Satelliten taumelt dieser oft wild um seine Achsen, präsentiert uns abwechselnd Längs- und Schmalseite. Resultat sind Helligkeitsschwankungen mit sekundenlangen Perioden. Sie fallen bei betont länglichen Objekten wie ausgebrannten Raketenstufen besonders auf.

Das freie Auge erkennt nur die Spitze des orbitalen Müllbergs. Was kleiner ist als etwa einen Meter reflektiert zu wenig Sonnenlicht. Für einen umfassenderen Überblick muss man empfindliche Teleskopkameras und Radaranlagen einsetzen.

Geschockt vom Start des ersten künstlichen Erdsatelliten im Oktober 1957 stampften die USA das Programm "Harvest Moon" aus dem Boden. Es sollte Sputnik und alle weiteren sowjetischen Aktivitäten im All überwachen. 45 Jahre später verfolgt das US Space Command schon 9.000 Objekte, bestimmt deren Bahndaten laufend neu und warnt vor etwaigen Begegnungen im Weltraum.

Wird ein bestimmter Sicherheitsabstand unterschritten, starten bemannte Raumfahrzeuge Ausweichmanöver. Die Shuttles wurden mehrmals zur Triebwerkszündung angewiesen, um nur ja kein Risiko einzugehen. Sogar die Raumstation ISS brachte man schon auf Ausweichkurs. Allfällige Zusammenstöße mit einer noch aus UdSSR-Zeiten stammenden Raketenstufe wurden so unterbunden.

Das Gros der vom Space Command erfassten Objekte ist Schrott amerikanischer und russischer Herkunft. In weitem Abstand folgen China und die europäische ESA. Auf jeden noch funktionsfähigen Satelliten kommen mittlerweile an die 16 Stück Müll.

Altlasten

Wird ein Satellit in den Orbit geschossen, ist er nicht allein. Die oberste Raketenstufe, Abdeckungen, abgesprengte Halterungen, Bolzen und Lacksplitter begleiten ihn. Es wird mehr Abfall ausgesetzt als eigentliche Nutzlast. Ausgebrannte Raketenstufen sind besonders problematische Altlasten. 1961 zerriss es eine amerikanische Able-Star. Von der Erde aus konnten 270 Fragmente verfolgt werden.

Mehr als 160 ähnliche Explosionen folgten - oft, weil sich Resttreibstoff noch Jahre nach dem Einschwenken in die Umlaufbahn entzündete. Später bemühte man sich, diesen abzubrennen. Dennoch detonierte 1996 die Oberstufe einer Pegasus-Rakete. Space Command katalogisierte 700 Bruchstücke. Von den 9.000 eingetragenen Objekten gehen dreieinhalbtausend auf Explosionen zurück. Dazu kommen jeweils ein- bis zweitausend ganz gebliebene Raketenstufen, defekte Nutzlasten und abgesprengte Satellitenteile. Sie ziehen auf Bahnen mit unterschiedlicher Äquatorneigung und Flughöhe um unseren Planeten.

Zwischen den Erdbegleitern und den Instrumenten des Space Command liegen in jedem Fall hunderte km Distanz. Daher erfasst auch diese Überwachungseinrichtung bei weitem nicht alles. Vereinfacht gesagt, gehen erst Körper ab etwa 10 cm ins Netz. Für kleinere gibt es bloß Schätzungen. So geht man heute von 110.000 Objekten ab 1 cm Durchmesser aus. Die Zahl der Fragmente im Millimeterbereich reicht sicher weit in die Millionen. Allein die erwähnte Pegasus-Detonation produzierte vermutlich 300.000 Bruchstücke mit jeweils mehr als 2 mm Radius.

Die US-Raumfähre ermöglichte es, Satelliten zur Untersuchung auf die Erde zurück zu bringen. So packte man 1990 die Long Duration Exposure Facility (LDEF) in die Ladebucht der Columbia. Fast sechs Jahre Aufenthalt im Orbit hatten dem Satelliten zugesetzt. Auf jedem Quadratmeter zählte man 40.000 kleine Löcher. Jedes einzelne war Zeuge einer Kollision mit einem winzigen Partikel. Der ESA-Satellit Eureca bekam allein 1992/93 mehr als tausend mit bloßem Auge sichtbare Krater ab, mit Durchmessern bis zu 6.4 mm.

Auch die Oberfläche des Hubble-Weltraumteleskops ist von Einschlagsnarben gezeichnet, wie Astronauten bei einer der Service-Missionen feststellten. In seiner Antenne klaffte sogar ein 2 cm weites Loch.

Lacksplitter

Schon zu Beginn des Raumfahrtzeitalters hielt man Mikrometeorite für eine Gefahrenquelle. Diese natürlichen Himmelsgeschoße sind meist Auflösungsreste von Kometen. Ab ein paar mm Radius sorgen sie beim Eintritt in die Lufthülle für helle Leuchterscheinungen - die "Sternschnuppen". Obwohl Mikrometeorite typischerweise doppelt so schnell unterwegs sind wie Weltraummüll, ist letzterer wohl bereits das schlimmere Übel. So werden die US-Raumfähren bei jedem Flug von Dutzenden Kleinstprojektilen getroffen. Wie Materialuntersuchungen zeigen, ist mehr als die Hälfte davon künstlicher Herkunft.

Schlagzeilen machte ein 0.2 mm kleiner Lacksplitter, der 1983 mit einem Tempo von über 11.000 km/h in eine der insgesamt zehn Scheiben der Challenger krachte. Der resultierende Krater von 2.4 mm Weite war nicht tief genug, um das Glas zu durchdringen und die fünfköpfige Besatzung zu gefährden.

Mittlerweile hat man an die hundert Shuttle-Scheiben ausgetauscht. Allerdings: Bei keiner einzigen bemannten Mission ist es je zu einem dramatischen Zwischenfall mit Weltraumschrott gekommen. Selbst die russische Station MIR erlitt in 15 Jahren Dienst keinen ernsthaften Treffer. Das relativiert die Bedrohung durch orbitalen Abfall.

Skeptiker überzeugt das nicht. Die wirkliche Ursache von Satellitenausfällen oder Explosionen sei nicht immer sicher bestimmbar, werfen sie ein. Es könnte vielleicht schon mehr Opfer durch Weltraumschrott gegeben haben, als den französischen Militärsatelliten Cerise. Dieser stieß 1996 mit dem Fragment einer zehn Jahre zuvor detonierten europäischen Ariane-Rakete zusammen.

Sprengstoff Man stelle sich ein Auto von 1.000 kg Masse vor, das mit Tempo 100 auf der Autobahn dahin fährt. Die gleiche Bewegungsenergie besitzt ein bloß 13 Gramm leichtes Objekt im Orbit. Grund: die kinetische Energie wächst mit dem Quadrat der Geschwindigkeit, und die ist im All enorm. Die ISS schießt mit 27.600 km/h dahin. Schrott kann ihr aus allen Richtungen begegnen, im Extremfall sogar frontal.

Bei einem Tempo um 10 km/sec durchschlägt ein Splitter von 0.6 mm einen Raumanzug, einer im Millimeterbereich gar einen Satelliten. Ein 80 Gramm schwerer Teil kann gefährlich sein wie 1 kg Sprengstoff. Vor allem bemannte Raumfahrzeuge werden daher abgeschirmt. Shuttle und ISS sollen etwa Geschossen bis zur Dimension einer Murmel standhalten können. Eine wirkliche "Panzerung" kann es freilich nicht geben. Abschirmungen sind schwer - und das Startgewicht ist eine der entscheidendsten Größen in der Raumfahrt.

Entsorgung

Streng genommen sind die Nachfolger Sputniks nicht im idealen Vakuum unterwegs. Vielmehr rasen sie durch die äußersten Ausläufer der Lufthülle. Zusammenstöße mit atmosphärischen Atomen rauben ihnen Energie, bremsen sie ab. Ein verlangsamter Satellit sinkt, so will es die Himmelsmechanik, in eine niedrigere Umlaufbahn. Dort trifft er auf noch mehr Atome, wird weiter abgebremst. Der Prozess schaukelt sich auf. Satelliten spiralisieren ihrem Ende entgegen und verglühen schließlich. Alle paar Tage registriert man solche Abstürze. Bei hoher Sonnenaktivität sind sie häufiger, weil die Erdatmosphäre dann noch weiter ins All hinaus greift. Selbst in einer Flughöhe von 392 km verliert die ISS täglich 144 m. Angedockte US-Shuttles hievten sie immer wieder in einen höheren Orbit. Jetzt machen das russische Raumschiffe. Ohne Bahnkorrekturen drohte ihr das gleiche Schicksal wie der US-Station Skylab. Sie kam 1979 herunter. Apollo-Schiffe waren damals längst aufgebraucht und Columbia, die erste Raumfähre, absolvierte den Jungfernflug erst 1981.

Die Lufthülle ist ein großer Besen. Sie kehrt den kreisenden Abfall auf. Seine Lebenserwartung ist damit begrenzt. In sehr niedrigen Orbits beträgt sie Wochen oder Monate, in höheren aber Jahrzehnte bis Jahrtausende. Daran erinnert Vanguard I, gestartet 1958. Obwohl der zweite US-Satellit 1964 verstummte, zieht er in einer mittleren Höhe von 2.250 km noch immer um die Erde.

Natürlich bevorzugen Satellitenbetreiber Orbits, die ihre teuren Schützlinge lange vor dem Absturz bewahren. Dort ist aber auch die natürliche Müllentsorgung viel zu langsam. Die Lufthülle kommt mit der Arbeit nicht nach. Jährlich wächst die Liste katalogisierter Objekte um bis zu 200 Eintragungen. Eine Trendumkehr ist angesichts der Bedeutung von Navigations-, Telekommunikations- und Erdbeobachtungssatelliten nicht in Sicht.

Lücke

1997 warnte das National Research Council. Ein Einschlag im Shuttle, der "die Vorderkante oder Unterseite einer Tragfläche" beschädige, bliebe im Orbit vielleicht unentdeckt. Beim Wiedereintritt könne übermäßige Erhitzung aber zum "Verlust der Kontrolle" über die Fähre und letztlich sogar "zum Verlust des Fahrzeugs" führen, hieß es in dem Bericht.

Doch selbst wenn Weltraumschrott nichts mit der Columbia-Katastrophe zu tun haben sollte, bleibt er Risiko. Raumschiffe können den überwachten Schrottteilen im Dezimeterbereich ausweichen. Abschirmungen mögen vor Splittern mit einigen Millimetern Radius schützen. Doch dazwischen klafft eine Lücke: die geschätzten 100.000 Geschosse mit grob 1 bis 10 cm Durchmesser.