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Schuften bis zum Umfallen?

Von Thomas Karny

Reflexionen

Trotz zunehmender Burnouts und Überlastung bleibt das allgemeine Arbeitsethos in Österreich hoch - und die Arbeitslosenrate niedrig. Zwischen Zwang zur Pflicht und Recht auf Müßiggang: Zur Sozialgeschichte des Arbeitsbegriffs.


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Manchmal muss es einen Prominenten treffen, damit ein Thema an Schärfe gewinnt. Als der oberösterreichische Grün-Politiker Rudi Anschober kürzlich wegen eines Burnout zurücktrat, erntete sein Outing allgemeinen Respekt und brachte mit einem Schlag die Problematik der Überlastung am Arbeitsplatz aufs Tapet. Dazu passend veröffentlichte das Sozialministerium eine Studie: 31 Prozent der Arbeitnehmer fühlen sich am Arbeitsplatz "gesundheitlich beeinträchtigt", und 27 Prozent geben an, aus Angst vor Jobverlust krank arbeiten zu gehen. Sie schuften also sprichwörtlich bis zum Umfallen, auch wenn Letzteres vorzeitig passieren sollte. Denn 23 Prozent befürchten, ihre Arbeit nicht bis zur Pension durchhalten zu können.

Elite gegen Faulpelze

Der mediale Aufschrei war laut und deutlich vernehmbar; das alltägliche Wehklagen wird anhalten, aber bei kaum jemandem Gehör finden. Denn dafür, dass sich an den Arbeitsbedingungen etwas großartig ändern wird, steht das Arbeitsethos zu hoch im Kurs. Zu jenen, die zum Einsatz im Unternehmen nicht mehr taugen, will niemand gehören. Das ist der Unterschied zwischen "prominent" und "gemein": Was dort zum mutigen Vorbild stilisiert wird, erfährt hier die Degradierung zum mutmaßlichen Drückeberger. Was dort eine verdiente Auszeit suggeriert, setzt sich hier dem Verdacht der allgemein finanzierten Arbeitsverweigerung aus.

Die fleißigen Hochleister ziehen schnell die Grenze zu den angeblichen Faulpelzen. Und die Elite sieht sich zuweilen pädagogisch gefordert: "Es gibt kein Recht auf Faulheit!", richtete einst der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder jenen knapp vier Millionen Arbeitslosen aus, die im Kampf um 350.000 offene Stellen auf der Strecke geblieben waren.

Wer von Kapitalverwertung, Gewinnmaximierung und Rationalisierung nicht reden will, der redet von Faulheit. Wer die Unzulänglichkeiten eines prinzipiell Reichtum schaffenden, aber in der gerechten Verteilung mehr als hinkenden Systems nicht verantworten möchte, schiebt sie den Faulen in die Schuhe.

McJobs und Ich-AG’s

Dass Arbeitsuchende erst dann wieder eingestellt werden, wenn sie deutlich mehr Gewinn produzieren als Kosten verursachen, gehört zum kapitalistischen Grundprinzip, das Arbeitsplätze je nach Konjunktur schafft oder abbaut, aber dabei so gut wie gar nicht auf die Sünde der Faulheit oder die Tugend des Fleißes Rücksicht nimmt.

Arbeitslose werden zu Ich-AG’s verführt, in McJobs gezwungen oder auf einen AMS-Kurs aufgebucht. Sie werden entweder wieder (schlecht entlohnter) Teil der Produktivgesellschaft oder in das Joch des (lebenslangen) Lernens gespannt.

Jeder lernt es, jeder internalisiert es: Arbeit ist Pflicht. Um dieser Pflicht auch ein äußerliches Zeichen zu setzen, wurde 1555 in London eigens ein Gebäude errichtet: das Arbeitshaus. Es war das erste in Europa. Wien folgte 1671 nach. Während die Städte durch Handel und Gewerbe auflebten und das Bürgertum an Einfluss gewann, verarmte die Landbevölkerung durch das Auseinanderbrechen der feudalistischen Ordnung. Vagabundierende Bettler und Kriminelle wurden zur Bedrohung des Gemeinwesens und in den neu errichteten Verwahrstätten, deren Abgrenzung zu Armenhäusern, Zuchthäusern und Gefängnissen nicht ganz scharf war, abgesondert.

Gottgewollte Armut

Noch bis in das hohe Mittelalter waren Bettler eine soziale Kategorie, aber kein soziales Problem gewesen. Armut galt zwar als makelhaft, aber als gottgewollt. Im Austausch gegen ein Dankgebet wurden Bedürftige von zumeist christlichen Organisationen versorgt. Nun aber war die Armut nicht mehr gottgewollt, sondern selbst verschuldet. Der Arme erhielt die Fürsorge nicht mehr umsonst, sondern hatte dafür eine wirtschaftliche Gegenleistung zu erbringen. Eine Verhaltensweise, die auch außerhalb von Arbeitszwangseinrichtungen zu beobachten war. So soll etwa laut dem Volkskundler Franz Grieshofer die Tradition der alljährlich im Salzkammergut stattfindenden Glöcklerläufe auf arbeitslos gewordene Salinenarbeiter zurückgehen, die mit ihrem Maskeradespektakel eine Gegenleistung für den Empfang milder Gaben erbrachten. Ihre moderne Entsprechung finden sie in den Straßenkünstlern, deren Darbietungen in den Augen jener Passanten, die sie mit Spenden "entlohnen", offensichtlich einen wirtschaftlichen Wert darstellen. Auch den slowakischen Bettlern, die man in jüngster Vergangenheit aus einigen österreichischen Städten vertrieben hat, wurde die Rückkehr erlaubt, seit sie mit dem Verkauf von Straßenzeitungen den Anschein niedrigstschwelligen Erwerbs erwecken.

Mit dem Gesetz zur Arbeitspflicht in den 1770er Jahren kam der Arbeit eine disziplinierende Funktion zu. Zwischen 1750 und 1755 erließ Maria Theresia 15 Patente gegen "Bettel und Vagieren", die Josephinische Gesetzgebung sah 1776 für Arbeitshausinsassen "ordentliche Züchtigung" vor. 90 Jahre später, 1865, wurde in einer Verordnung der pädagogische Wert der Arbeit hervorgehoben: "Es ist danach zu trachten, dass kein Verhafteter unbeschäftigt bleibe, sondern dass nach Tunlichkeit alle Gefangenen mit solchen Arbeiten beschäftigt werden, welche ihrer Individualität entsprechen und die zugleich geeignet sind, dieselben erst arbeits- und erwerbsfähig, dann aber auch arbeitsfreudig zu machen."

Die Arbeitshäuser wurden in der Regel von einem Inspektor geleitet, der für die wirtschaftliche Ausstattung zuständig war. Ein Werk- oder Zuchtmeister führte die Aufsicht über die Insassen, und fast immer gehörte auch ein Geistlicher zum Personal. Das Ziel war, den Menschen zu einem ökonomisch selbstständigen Wirtschaftssubjekt zu erziehen und die als schlecht bewertete Eigenschaft des Müßiggangs durch Tugenden wie Gehorsam, Pünktlichkeit und Fleiß zu ersetzen. Seine Haut zu Markte zu tragen sollte das als vernünftig und normal empfundene Ergebnis einer erfolgreichen Sozialdisziplinierung sein.

"Tod durch Arbeit"

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts förderten Arbeitsbeschaffungsprogramme in Zeiten der Krise Prestigeprojekte wie etwa die Großglockner Hochalpenstraße oder den Bau des 1938 begonnenen und erst zehn Jahre nach Kriegsende abgeschlossenen Großkraftwerks Kaprun. Beiden Projekten war gemein, Arbeitslose - in vielen Fällen für die Schwerstarbeit in teils hochalpinem Gelände völlig ungeeignet - in Beschäftigung zu bekommen. Um jeden Preis, und koste es das Leben. Der Bau von Kaprun forderte weit über 100 Tote, die Reduzierung der Arbeitslosenzahl durch diese Großprojekte war minimal. Für die Straße über den Großglockner weist der Historiker Georg Rigele nach, dass in Spitzenzeiten höchstens ein Prozent der in Österreich erfassten Arbeitslosen Beschäftigung fand.

Im Nationalsozialismus fand das Konzept "Tod durch Arbeit" eiskalte Umsetzung. "Asoziale" wurden vom "gesunden Volkskörper" getrennt und in Konzentrationslager verschleppt - 10.000 Personen allein im Sommer 1938 im Zuge der berüchtigten "Aktion Arbeitsscheu Reich". Der Begriff der Asozialität blieb diffus: Er umfasste Landstreicher, Bettler und Personen, die mit Unterhaltszahlungen im Rückstand waren, ebenso wie Roma und Sinti.

Die mit einem schwarzen Winkel gekennzeichneten "Asozialen" spielten - entsprechend ihrem Status in Freiheit - auch innerhalb der Lagerhierarchie keine Rolle. Im Gegenteil: Politische Häftlinge sahen oft durch die Einlieferung von Bettlern und Landstreichern ihr idealistisches Engagement diskreditiert. Auch nach der Befreiung wurden die Kameraden mit dem schwarzen Winkel nicht als Leidensgenossen, sondern als unbotmäßige Konkurrenten im Bemühen um Anerkennung als "Opfer des Faschismus" und Entschädigung empfunden.

Mit dem Wiederaufbau nach Kriegsende setzte ein konjunktureller Aufschwung ein, der die Arbeitslosigkeit lange auf niedrigem Niveau hielt. Bis in die 1980er Jahre war es auf Grund der guten Wirtschaftslage üblich, dass Arbeitsuchende direkt in einen Job vermittelt wurden. Seitens der Politik waren keine allzu großen Aktivitäten notwendig, weil der Markt in einer noch nicht aggressiven und raubtierhaften, sondern regulierenden Weise das Spiel von Arbeitsangebot und Arbeitskräftenachfrage in Balance hielt.

Als Strukturwandel, Konjunktureinbrüche, Großpleiten und der heraufziehende Geist des shareholder value Bruno Kreiskys Rechnung von der Senkung der Arbeitslosenzahlen zulasten der Staatsschulden zu keinem sinnvollen Ergebnis mehr kommen ließen, änderten sich auch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Alfred Dallinger, der als Sozialminister von 1980 bis zu seinem Tod 1989 eine volle Dekade prägte, initiierte die aktive Arbeitsmarktpolitik. Es wurden Gelder für Beschäftigungsprojekte des "zweiten Arbeitsmarktes" bereitgestellt, sozial-ökonomische Betriebe gegründet, vermehrt in Ausbildung und Qualifizierung investiert.

Damals schon und heute mehr denn je gilt der Grundsatz, dass hohe Qualifikation zwar nicht vor Arbeitslosigkeit schützt, niedrige jedoch die Arbeitslosigkeit fördert. Waren lange Zeit Schule, Lehre und Universitäten für die (Aus-)Bildung zuständig, so gewinnt der postscholare Ausbildungsteil heutzutage immer mehr an Bedeutung. Oft werden erst im Zuge der Erwachsenenbildung jene grundlegenden Inhalte unterrichtet, die zu vermitteln die Pflichtschule verabsäumt hat. Nicht selten bildet erst der Zustand der Arbeitslosigkeit die Notwendigkeit zu Fortbildung und beruflicher Veränderung. Dies wird vom Arbeitsmarktservice nicht nur gefördert, sondern auch gefordert.

Drohmittel AMS-Kurs

Was grundsätzlich eine sinnvolle Maßnahme darstellt, wird im Kontakt zwischen AMS-Berater und Arbeitsuchendem zuweilen zum Druckmittel: "Wenn’S net bald an Job finden, steck i Sie in an Kurs!" Der "Kurs" wird zum Drohinstrument, zur metaphorischen Peitsche, die jenen, die es sich im Faulbett des Sozialstaates bequem eingerichtet zu haben scheinen, wieder auf die Sprünge helfen soll. AMS-Vorstand Johannes Kopf gab vor noch nicht allzu langer Zeit gegenüber der Tageszeitung "Die Presse" freimütig zu: "In Wien haben wir Kurse, bei denen jeder Zehnte sofort einen Job annimmt, wenn sie erfahren, dass sie daran teilnehmen sollen."

Einen derart spontanen Erfolg erzielen die "Aktivierungsmaßnahmen", so die Bezeichnung für die Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser in den Arbeitsmarkt durch das allmähliche Heranführen an eine geregelte Tagesstruktur, selten. "Man kann aber Menschen nicht ganz in Ruhe lassen", sagt Kopf, "das ist unverantwortbar."

Immer wieder wird von unglücklichen Zuweisungen oder nicht zufriedenstellenden Kursverläufen berichtet. Von Arbeitsuchenden, die wiederholt auf den gleichen Kurs aufgebucht wurden; oder von solchen, denen eine Qualifizierung in jenen Bereichen aufgezwungen worden war, über die sie aufgrund ihrer Ausbildung oder ihrer beruflichen Erfahrung ohnehin schon verfügten; schließlich von jenen, deren Kenntnisse besser als jene der unterrichtenden Trainer waren.

Andere schließen eine anspruchsvolle Ausbildung mit ausgezeichnetem Erfolg ab, finden aber keinen Job, weil Alter, Geschlecht, zu geringe Pendelbereitschaft, befürchtete oder tatsächliche Sorgepflichten durch Fleiß und Qualifikationsniveau nicht aufgewogen werden. Erwies sich eine Bildungsmaßnahme als ergebnislos, folgt nicht selten die nächste. Wer in der Endlosschleife der wiederkehrenden Kursbesuche hängt, empfindet sich selbst über kurz oder lang bloß noch als Objekt einer Schulungsmaschinerie, deren Zweck nicht die Wissensvermittlung als Basis für den Jobeinstieg, sondern die Statistikbereinigung ist. Aktivierend ist das nicht.

Seit die Arbeit zur ethischen Pflicht erhoben wurde, wird sie als Repressalie gegenüber Personen verwendet, die einen abweichenden Lebensentwurf realisieren müssen oder wollen. Arbeitshaus, nationale Beschäftigungsprojekte und in ihrer pervertierten Form das Konzentrationslager zielten auf die Zusammenfassung gesellschaftlicher Randgruppen bei gleichzeitiger Nutzung ihrer Arbeitskraft ab. Bei aller gebotenen Vorsicht des Vergleichs: Aber findet der vor 200 Jahren für die wirtschaftlichen Belange eines Arbeitshauses zuständige Inspektor nicht seine Entsprechung im Geschäftsführer einer Bildungseinrichtung unserer Zeit?

Taucht der Zuchtmeister, der einst seinen Zöglingen mit rustikalen Methoden die Arbeitstugenden einbläute, heutzutage nicht in der humanisierten Form des Berufsorientierungstrainers wieder auf? Findet nicht der ehedem für das Seelenheil verantwortliche Geistliche seine säkularisierte Entsprechung im psychologischen Dienst? Und wird nicht mit der Methode der Praktika die Arbeitskraft jener (aus-)genutzt, die ihrer Pflicht zur Arbeit nachkommen müssen, den Praktikumsgeber aber zu gar nichts verpflichtet?

Arbeitsmarktpolitik

Österreich ist mit Recht darauf stolz, innerhalb der EU das Land mit der niedrigsten Arbeitslosenrate zu sein. Eine florierende Wirtschaft, über die das Land auf Grund gut aufgestellter Firmen, Spitzen-Know-how und großer Exportleistung verfügt, kommt nur durch Fleiß, Einsatzbereitschaft, Zuverlässigkeit und entsprechendes Qualifikationsniveau der Werktätigen zustande.

Zurzeit besuchen rund 60.000 Menschen einen Kurs. Und um die Kirche im Dorf zu lassen: Das AMS nimmt für die aktive Arbeitsmarktpolitik eine Menge Geld in die Hand (für 2012 rund 980 Mio. Euro) und hat neben Billigkursen sehr wohl auch exzellente Ausbildungen im Programm. Ein beträchtlicher Teil der Kursteilnehmer wird nach Abschluss über eine marktkonforme Qualifikation verfügen und somit die eigenen Vermittlungschancen deutlich erhöht haben. Andere jedoch werden nach ein paar Wochen, die sie mit wenig inspirierenden Tätigkeiten verbracht haben, mit kaum verwertbaren Kenntnissen wieder nach Hause gehen. "Wir tun so, als könnten wir aus jedem etwas machen", gesteht Österreichs oberster Arbeitsvermittler, "aber das ist nicht mehr als eine charmante Lüge." Jemanden einfach nur in Ruhe zu lassen, das geht halt aber auch nicht.

Thomas Karny, geb. 1964, ist Sozialpädagoge, Autor und Journalist. Mehrere Buchveröffentlichungen zu Zeit- und Motorsportgeschichte. Lebt in Graz.