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Schuften für ein Butterbrot

Von Piotr Dobrowolski

Politik

Horden von osteuropäischen Billigarbeitern - in der Liste der Ängste vor der neuen EU steht diese Befürchtung ganz hoch oben. Doch längst sind auch die neuen Beitrittsländer selbst zu einem begehrten Ziel von Arbeitsmigranten geworden. Tschechien etwa sieht sich mit einem massiven Andrang aus der Ukraine konfrontiert.


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Auf rund 40.000 wird die Zahl der in Tschechien legal arbeitenden Ukrainer geschätzt, die Zahl der Illegalen dürfte mindestens noch einmal so hoch sein. Die tschechische Politik, aber auch die tschechische Gesellschaft wissen nicht recht, wie sie auf das Phänomen reagieren sollen: Während Innenminister Stanislav Gross die illegale Arbeitsmigration mit radikalen Gesetzesverschärfungen stoppen möchte, mahnen Demoskopen zur Besonnenheit. Denn längst ist in Tschechien die Situation ähnlich wie in Österreich - die Bevölkerung droht zu überaltern, auf längere Sicht scheint der Zuzug von ausländischen Arbeitskräften unvermeidbar: Bis zum Jahr 2050, hat das Tschechische Statistische Amt errechnet, könnte ohne Zuwanderung die Bevölkerungszahl im Land um fast zehn Prozent sinken, schon 2030 könnten 420.000 Arbeitskräfte fehlen.

Rettungsanker

Jene Ukrainer, die heute in Tschechien zwar geduldet, in der Regel aber nicht gerade mit übermäßiger Sympathie bedacht werden, könnten dann zu einem Rettungsanker für die tschechische Volkswirtschaft werden. In manchen Bereichen sind sie es heute schon - vor allem das Baugewerbe könnte ohne sie kaum noch auskommen. Der Bedarf der boomenden, aber immer noch eher finanzschwachen tschechischen Bauindustrie nach billigen Arbeitskräften ist auch aus den Zahlen der tschechischen Ausländerpolizei ersichtlich: "Ukrainische Bürger machen achtzig Prozent jener Personen aus, die sich illegal in Tschechien aufhalten. Sie kommen in der Regel auf der Basis eines Touristenvisums nach Tschechien, wenn die Frist abgelaufen ist, bleiben sie hier und arbeiten schwarz", berichtet die Polizeianalystin Zdenka Danisova.

Egal ob in der Großküche, als Babysitter oder eben am Bau: Ukrainische Arbeiter und Arbeiterinnen sind für tschechische Verhältnisse konkurrenzlos billig: Sie kosten oft nicht einmal ein Viertel dessen, was eine vergleichbare tschechische Arbeitskraft bekommen müsste.

Und sie sind damit immer noch zufrieden. Vika, eine junge Frau aus Lemberg, hat zuhause russische Philologie studiert. In Prag hilft sie in der Küche eines Touristenlokals aus, schwarz und zu Dumpingpreisen versteht sich. Die Gefahr, von der Polizei erwischt zu werden, das Bewusstsein einen Job zu machen, für den sie eigentlich nicht unbedingt mehrere Jahre hätte studieren müssen, nimmt sie in Kauf. Denn zuhause bei den Eltern wartet die sechsjährige Olena, Vikas Kind aus einer inzwischen geschiedenen Ehe. Vika sieht das Mädchen drei bis viermal im Jahr, wenn sie auf einen Kurzurlaub in das heimatliche Lemberg kommt. "Das ist alles nicht schön", sagt Vika, "aber wenigstens kann meine Tochter ab und zu einen Fruchtsaft trinken und ein Joghurt essen." Mit Vikas Lehrerin-Gehalt von umgerechnet rund 25 Euro wäre an derartigen Luxus nicht zu denken. Die Wohnungsmiete allein macht rund zwei Drittel des Gehalts aus.

Migration hat Tradition

Arbeit in Tschechien zu suchen, hat bei den Ukrainern eine lange Tradition. Die erste Welle ukrainischer Einwanderer kam nach dem Zerfall der k. u. k. Monarchie als die Tschechoslowakische Republik gegründet wurde. Die meisten Einwanderer kamen damals wie heute noch aus der westukrainischen Zakarpatie- und Halic-Region. Es waren nicht nur einfache Arbeiter auf der Suche nach Broterwerb, sondern auch zahlreiche Angehörige der damaligen ukrainischen Intelligenz - in Podebrady entstand in der Folge daher sogar eine ukrainische Universität. Den zweiten Weltkrieg überlebte die Institution nicht, doch bevor eine undurchdringliche Grenze die Tschechoslowakische Sozialistische Republik vom Bruderstaat Sowjetunion trennte, schafften es im Nachkriegswirrwarr noch einige Ukrainer, aus Stalins Reich zu entkommen und in die damals noch nicht ganz so triste Tschechoslowakei zu flüchten. Dann war Jahrzehnte lang Ebbe. Statt Ukrainer kamen eher schon Studenten aus Afrika in die sozialistische Tschechoslowakei. Als Tschechien in den neunziger Jahren ein sehr lockeres Visaregime für Ukrainer einführte, das sie erst 2000 auf EU-Druck verschärfte, setzte der Strom ukrainischer Arbeitsmigranten aber erneut ein. Und er hält bis heute an. Diejenigen, die bereits Fuß in Tschechien gefasst haben, dienen oft als erste Anlaufstelle für Nachfolger.

Das Klienten-System, wie es die Ukrainer nennen, das dabei entstand, trägt allerdings nicht selten Formen von organisierter Wirtschaftskriminalität, denn es dient vor allem einem Zweck: die tschechischen Einwanderungs- und Arbeitsmarktbestimmungen möglichst effizient zu umgehen. Als Schaltstelle fungieren dabei meist ukrainische Bürger, die legal eine Firma in Tschechien registriert haben und die ihre ukrainischen Arbeitskräfte an tschechische Betriebe weitervermieten. Manchmal geschieht das unter Einhaltung aller arbeitsrechtlicher Prozeduren, manchmal unter ihrer Umgehung. Der Vorteil für den tschechischen Arbeitgeber bleibt aber stets der gleiche - er muss sich nicht um die rechtlichen Belange kümmern, das Risiko für etwaige fehlende Papiere trägt der ukrainische Vermittler. Dafür kassiert er auch eine entsprechende Provision: rund die Hälfte des Stundenlohns, der auch an ihn und nicht direkt an die Arbeiter ausbezahlt wird.

Sagenhaft günstig

Für tschechische Firmen, die sich dieses Systems bedienen, ist der Einsatz ukrainischer Schwarzarbeiter absolut attraktiv: 150 Kronen, nicht ganz fünf Euro, kostet in der Stunde ein tschechischer Bauarbeiter, rund 70 Kronen kassiert für eine Mannstunde ein ukrainischer Vermittler, ungefähr die Hälfte davon, also zwischen 30 und 40 Kronen gibt er an seine Arbeiter weiter. Die murren dennoch nicht: Auch bei einem Stundenlohn von 30 Kronen verdienen sie auf einer Baustelle in Prag innerhalb von drei Tagen so viel wie sie in der Ukraine innerhalb eines Monats verdient hätten. Kein Wunder daher, dass das Klientensystem nicht auszumerzen ist. Das für seine kritischen Reportagen bekannte tschechische Magazin "Respekt" etwa berichtet, dass eine der größten in Tschechien tätigen Baufirmen, Skanska, formell zwar gerade vier ukrainische Mitarbeiter beschäftigt, auf Skanska-Baustellen Ukrainisch aber viel öfter zu hören sei als Tschechisch.

Fast alle Ukrainer, die für Skanska werken, werden im Klientensystem über Mittelsmänner angeheuert. Die sorgen auch für die Unterkunft für die Dauer des Einsatzes: meist heruntergekommene Wohnungen mit Stockbetten aus Metall, mindestens vier Leuten pro Zimmer und katastrophalen sanitären Einrichtungen.

Das Verhältnis der ukrainischen Vermittler zu ihren auf den Baustellen arbeitenden Landsleuten ist durchaus unterschiedlich. Dass ein Monatslohn einbehalten wird, damit sich der Schützling nicht aus dem Staub macht und einen anderen Patron sucht, kommt ebenso vor wie nahezu väterliche Fürsorge. "Unser Patron hat uns stets mit seinem Kleinbus in die Ukraine gebracht. Das war viel sicherer, denn im Zug oder in einem normalen Bus ist die Gefahr, ausgeraubt zu werden und alles verdiente Geld zu verlieren groß", erzählt Bohdan, der immer wieder aus der Ukraine für einige Wochen nach Prag zur Schwarzarbeit kommt. Inzwischen können Ukrainer ihr Geld aus Tschechien zwar direkt nach Hause überweisen, doch auch hier hat sich längst ein Wucherwesen entwickelt: die Provision kommt auf satte fünfzehn Prozent. "Deshalb", sagt Bohdan, "ist es eben doch besser einen Patron zu haben. Der kassiert zwar, beschützt dich aber auch."