Aus der Corona-Krise sollten Lehren für die Bildungspolitik abgeleitet werden.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Im Vorlauf zur österreichischen Bildungsreform 2017 stellte die Forderung nach Entpolitisierung und der Einführung einer prononcierten Schul- und Lehrautonomie einen zentralen Diskussionspunkt dar. Wichtige Stoßrichtungen einer Autonomie waren: Schulleitungen nach objektiven Kriterien ohne Parteieneinfluss, aber unter Einbeziehung der Eltern zu besetzen und ihnen die Bestellung der Lehrkräfte zu übertragen. Weiters wollte man den Lehrkräften weitgehende Selbstbestimmung ihrer Lehrmethoden gewähren und den Lehrplan nur in den Gründzügen vorgeben. Lehrkräfte sollten eine erhöhte Verpflichtung zur Anwesenheit in der Schule haben mit entsprechend ausgestatteten Arbeitsplätzen, sie sollten evaluiert und leistungsorientiert entlohnt werden. Last but not least sollten den Schulen jährliche, veröffentlichte Tätigkeitsberichte mit transparenten und vergleichbaren Leistungsindikatoren zur Qualitätsevaluierung abverlangt werden. Als europäische Vorbilder in Sachen Schulautonomie wurden insbesondere die Niederlande und Finnland genannt.
Tatsächlich brachte das Bildungsreformgesetz 2017 ein "Autonomiepaket" mit einzelnen Flexibilisierungsmaßnahmen im Bereich der Unterrichtsorganisation und der Schul- und Personalentwicklung sowie eine Neuordnung der Behörden. Seither ist es um die Schulautonomie weitgehend ruhig geworden; ob aus Zufriedenheit über das Erreichte (oder Verhinderte) oder aus Resignation über das Nicht-Erreichte, bleibe dahingestellt. Nicht stillgehalten hat jedenfalls die Lehrerin und spätere Ombudsfrau Susanne Wiesinger, die 2018 ihr Buch "Kulturkampf im Klassenzimmer" und kürzlich ein zweites, "Machtkampf im Ministerium - wie Parteipolitik unsere Schulen zerstört", veröffentlicht hat. Deren Lektüre vermittelt nicht den Eindruck, dass das Potenzial einer Schulreform wirklich genutzt wurde.
Nun gibt es den bekannten, Winston Churchill zugeschrieben Spruch: "Never waste a good crisis." Das gilt auch für die Corona-Krise und die daraus abzuleitenden Lehren für die Bildungspolitik. Die kurzfristige Schließung aller Schuleinrichtungen für mehrere Wochen stellt nämlich einen umfassenden Feldversuch dar, Unterricht unter Außerachtlassung fast aller penibler bürokratischer Regelungen und unter Aufgabe der physischen Anwesenheitspflicht der Lernenden zu organisieren. Und zwar zu organisieren durch weitgehend autonom agierende Schulen beziehungsweise Lehrende. Wie steht es wirklich mit den digitalen Fähigkeiten der Lernenden jenseits von Sozialen Medien, Streaming-Diensten und Gaming? Mit der technischen Ausstattung der Schulen und zu Hause? Welche Prozedere, Computerprogramme und Tools haben sich bewährt, welche nicht? Wie haben die Lehrkräfte die Herausforderungen der plötzlich aufgetanen Autonomie bewältigt? Welche Rolle haben die Schulleitungen in dieser Ausnahmesituation gespielt? Welche die Eltern und überhaupt das soziale Milieu?
Eine systematische Dokumentation und wissenschaftliche Aufarbeitung der Erfahrungen im gesamten Bundesgebiet und über alle Schultypen hinweg böte eine gute Gelegenheit zur Evaluierung des Autonomiepakets der Bildungsreform.