In Taiwan sind erneut Proteste entbrannt. Es herrscht eine heftige Debatte darüber, wie nahe die Insel der Volksrepublik China stehen will.
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Taipeh/Wien. Zuerst wurden mit roter Farbe gefüllte Ballons auf das Bildungsministerium geworfen. Tage später drangen rund 30 Studenten und Schüler in das Gebäude ein und verbarrikadierten sich im Büro von Erziehungsminister Wu Se-hwa. Schließlich wurden sie von der Polizei abgeführt. Doch damit herrschte noch lange keine Ruhe: Am Freitag stürmten nun erneut hunderte Studenten das Gelände, indem sie etwa auf Leitern über die Zäune kletterten, und verlangten, dass sich der Minister einem Gespräch stellt.
Der Grund für die Aufregung: Das Ministerium plant Textänderungen in Schulbüchern. Die Protestbewegung wirft der China-freundlichen Regierung vor, eine entstellte Geschichtsschreibung zu forcieren, die in der Taiwan-Frage viel zu sehr den Standpunkt Pekings widerspiegeln würde. Das demokratisch regierte Taiwan ist de facto unabhängig, die Volksrepublik China sieht die Insel aber als abtrünnige Provinz an und schließt auch einen Militärschlag nicht aus, um Taiwan mit dem Festland zu vereinen.
Zusätzlich angeheizt wurden die Proteste durch den Selbstmord eines Studenten diese Woche, der sich stark in der Bewegung gegen die Schulbuchumschreibung engagiert hatte. Dem 20-Jährigen drohte laut Medienberichten eine Anklage, da er zu zu der Gruppe gehört hatte, die schon vergangene Woche das Ministerium kurzfristig besetzt hatten. Viele seiner Mitstreiter, aber auch Teile der politischen Opposition, interpretieren den Selbstmord als politische Tat.
Die wütenden Proteste rund um die neuen Schulbücher und den damit einhergehenden veränderten Lehrplan zeigen jedenfalls aufs Neue, welch heftige Debatte in Taiwan gerade geführt wird. Es geht dabei um die taiwanesische Identität, darum, wie viel Eigenständigkeit die Taiwanesen sich selbst zusprechen wollen und wie künftig die Beziehungen zu Peking geregelt werden sollen.
Regierung gegenStudenten
Auf der einen Seite steht die regierende Kuomintang-Partei. Sie intensivierte durch Wirtschaftsabkommen und politischen Austausch die Kontakte zu China. Ihr Argument: Nur friedliche, versöhnliche Beziehungen mit der übermächtigen Volksrepublik bringen Taiwan Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand.
Auf der anderen Seite steht die sogenannte "Sonnenblumenbewegung", deren Kern hauptsächlich aus Studenten besteht. Sie fürchtet, dass eine zu großen Annäherung an China den Einfluss der Volksrepublik so sehr vergrößert, dass die Taiwanesen ihre politischen Freiheiten verlieren. Die Sonnenblumenbewegung hat im Frühling des vergangenen Jahres das Parlament für drei Wochen besetzt und damit ein geplantes Abkommen, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu Peking nochmals intensiviert hätte, zu Fall gebracht.
Seitdem haben die Sonnenblumenbewegung und andere Protestgruppen einen langen Atem bewiesen. Sie zeigen Präsenz im Land, veranstalten Diskussionen, betreiben Medienarbeit oder demonstrieren und versuchen, so die Bürger auf ihre Seite zu ziehen. Tatsächlich steigt laut Umfragen vor allem unter jungen Taiwanesen der Wunsch nach einer stärkeren Abgrenzung von China. Die Sonnenblumenbewegung will von keiner politischen Partei vereinnahmt werden. Doch profitieren von ihr könnte bei den Wahlen Anfang nächsten Jahres die oppositionelle Demokratische Fortschrittspartei, die ebenfalls auf eine größere Eigenständigkeit Taiwans pocht.