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Schuld sind immer die Anderen

Von Mathias Ziegler

Wissen

Wenn uns etwas stört, jammern wir - und betonen damit, dass wir selbst nichts dafürkönnen.


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Ach Gott, ich muss jetzt endlich meinen Artikel übers Jammern schreiben, und mir fehlt noch immer der Einstieg. Geh bitte, das ist so mühsam, mir fällt überhaupt nix ein. Warum haben die Kollegen ausgerechnet mir dieses blöde Thema geben müssen? Hätten sie das nicht selbst schreiben können? Ach, ich bin echt gestraft ...

So ungefähr könnte ein passender Einstieg lauten zu einem Artikel über das Jammern. Schließlich ist das Jammern eine Form der verbalen Beschäftigung mit unangenehmen Zuständen, wissend, dass wir sie nicht selbst ändern können - oder vielleicht doch, nur müssten wir uns zur Lösung des Problems selbst an der Nase nehmen und bewegen.

"Wer jammert, sucht Zuwendung, Aufmerksamkeit, Bestätigung", meint dazu der Psychologe Ferdinand Wolf. "Und wenn wir jammern, tun wir das auch zunächst einmal, um einen Gesprächsstoff zu finden, so komisch das klingen mag, weil ein anderer fehlt." Frei nach dem Motto: "Bad news are good news."
Und noch viel wichtiger: Wer über bestimmte Zustände oder jemand anderen jammert, versucht damit gleichzeitig, sich selbst ein bisschen aus der problematischen Situation herauszunehmen. "Wir wollen die eigene Beteiligung beiseiteschieben und projizieren sie nach außen, auf jemand anderen - das ist auch eine Art psychischer Schutzmechanismus", erläutert Wolf. Deshalb braucht Jammern auch ein Publikum, um zu wirken. Wer alleine jammert, ohne Zuhörer, nur vor sich selbst und sich im Selbstmitleid suhlt, kann im Extremfall sogar in eine Depression rutschen.

Allerdings zitiert die Marktforscherin Alice Nilsson in ihrem neuen Buch "Hättiwari - Der wahre Kern von Österreich", das sich auch um Jammern und Selbstmitleid dreht, den US-Psychologen Mark Leary von der Wake Forest University in Winston-Salem: Dieser habe herausgefunden, dass das Selbstmitleid besser sei als sein Ruf. Menschen, die statt zu großem Selbstbewusstsein eher zu Selbstmitleid tendieren, würden negative Erlebnisse oft besser bewältigen. Vor allem, weil sie mit sich selbst wie mit einem guten Freund umgehen würden - Selbstmitleid sei somit eine Form der Psychohygiene, meint Nilsson.

Das Jammern hat also längst auch Eingang in die Psychotherapie gefunden, auch bei der sogenannten Lösungsfokussierten Kurzzeittherapie nach Steve De Shazer: Demnach hat das Jammern eine wichtige Bedeutung im Sinne einer speziellen Form von Beziehungsdefinition im Umgang mit dem Therapeuten. Wer jammert, sieht ein Problem, das aber der eigenen Ansicht nach in einer anderen Person liegt - und so sucht man Hilfe beim Therapeuten, um diese andere Person (zum Beispiel das eigene Kind, das nur Probleme macht) zu ändern, weil man selbst mit dem Latein am Ende ist.

Der Psychologe macht sich das Jammern dann zunutze, um durch die Hintertür die Beteiligung des scheinbar Unbeteiligten wieder hereinzuholen: "Wer über Kind oder Partner klagt, den kann man fragen: Ist es immer gleich, oder gibt es gute und schlechte Tage?" Mit gezieltem Nachfragen, so Wolf, findet man oft einen Lösungsansatz. Denn es kommt nicht selten auch darauf an, was der Jammernde selbst an einem guten oder schlechten Tag tut.

Zuspruch hilft immer. Denn wer jammert sucht vor allem Empathie.

Überhaupt ist ein bisschen Empathie einerseits Balsam für die Seele des Jammernden, andererseits kann es ihm mitunter sogar den Wind aus den Segeln nehmen, meint Wolf. "Fragen Sie nach: Wie hältst du das aus? Was tust du dagegen? Da muss der Jammernde dann plötzlich beschreiben, wie es ist, wird mit der ganzen Situation konfrontiert, auch mit seiner Beteiligung daran." Vielleicht wird ihm dann auch selbst bewusst, dass sich seine Jammerei im Kreis dreht und bereits seinen Mitmenschen auf die Nerven geht.

Trotzdem, betont der Psychologe, ist Jammern nicht per se negativ: "Wenn Kinder und Jugendliche zum Beispiel untereinander über ihre Eltern jammern, sind das Vergleichsprozesse, die durchaus helfen können. Die Frage ist, wann das Jammern langweilig wird." Und je mehr ihre Eltern zum Jammern tendieren, desto eher übernehmen es auch ihre Kinder, schließlich haben die Erwachsenen auch in diesen Belangen eine Vorbildfunktion.

Dass Jammern - oder auch Nicht-jammern - sehr stark von der Erziehung abhängt, dieser Ansicht ist der Wiener Soziologe Reinhold Knoll. Er unterscheidet auch zwischen verschiedenen Kulturen, die unterschiedliche Zugänge zu diesem Thema haben: "War es angeblich unmöglich, in einer nomadischen Kultur der Indianer zu jammern, so ist es wiederum bei Roma eine Ausdrucksform, die zum Alltag gehört. Im Orient wiederum haben das Jammern professionell die Klageweiber übernommen und werden je nach Stimmungslage auch eingesetzt."

Und er verweist darauf, dass in Europa den meisten Buben beigebracht wird, Schmerz zu verbeißen, Mädchen hingegen nicht. "Daraus ergibt sich diese Polarität, die wir schließlich unter dem Motto der Ebenbürtigkeit der Geschlechter abstellen wollen."

Trotz der noch immer vorherrschenden Geschlechterrollen hat Wolf die Erfahrung gemacht, dass "das Jammern zwar landläufig als weiblich gesehen wird, Männer aber genauso jammern, vielleicht sogar noch eher bei Kleinigkeiten."

Jammern sei weiblich, heißt es oft. Dabei jammern Männer fast häufiger - meist über Kleinigkeiten.

Und wenn man Knolls Ausführungen folgt, dann sind es gerade die Kleinigkeiten, die den Kern des Jammern ausmachen: "Ich denke, dass man das Jammern deutlich von Klagen oder Wehklagen trennen muss. Man jammert, wenn die Situation keineswegs den Höhepunkt einer Dramatik erreicht hat. Man jammert, da man zwar eine Änderung wünscht, doch selbst nicht Hand anlegt. Das tut man überhaupt nicht. Jammern ist andererseits nicht Wimmern. Verletzte wimmern. In Spitälern jammern die Leichtverletzten."

Seiner Meinung nach gibt es auch das prophylaktische Jammern. Als Beispiel führt er den Bauern an, der händeringend den dunklen Wolken entgegenblickt, die bald Regen bringen werden. Verhindern kann er sie nicht, nur darüber jammern. Genauso wird das Jammern gepflogen, "wenn man der Ansicht ist, dass ein Abend, eine Trübung, ein langsamer Abschied bevorsteht, von dem man meint, es nicht verhindern zu können", führt Knoll ein weiteres Beispiel an.

Er sieht im Jammern aber auch noch einen anderen Aspekt: "Es ist mit dem Gefühl einer Ohnmacht verbunden. Und diese scheinbare Ohnmacht erlaubt auch, eher distanzlos um Hilfe zu bitten. Das kann man sehr gut in der Sphäre der Bettelei beobachten. Da gleichen einander die Bilder über Kontinente hinweg."

Eine solche Extrovertiertheit ist allerdings nicht in jeder Kultur vorgesehen: "In Japan ist es undenkbar, dass man jammert, das hat fast die gleiche Bedeutung wie Gesichtsverlust. In Südchina dürfen Sie hingegen jammern", erklärt der Soziologe. Im Vergleich zum westlichen Kulturkreis hat Wolf allerdings auf seinen Reisen gerade in China "relativ wenig Jammern mitbekommen - vielleicht haben wir hier im Westen eher den Luxus, jammern zu können, während es in China mit dieser restriktiven Politik sogar gefährlich sein könnte". Der Psychologe zieht hier einen Vergleich mit dem NS-Regime: "Da galt Jammern als wehrkraftzersetzend. Über Gefallene trauern durfte man, aber jammern nicht."

Heute gibt es seiner Meinung nach besonders in bürokratischen Organisationen eine gewisse Jammerkultur: "Wenn man das Gefühl hat, dass man sich nur fügen kann und nichts ändern; wenn man sich da mit anderen, denen es ähnlich geht, austauscht, ist das dann geteiltes Leid, das einen in der eigenen Meinung bestätigt."

Und wo ist das Jammern am stärksten ausgeprägt? Natürlich in Österreich, befindet Nilsson. Den Österreichern sei es quasi in die Wiege gelegt: "Kaum ein anderes Land versinkt so gerne in Selbstmitleid und Selbstzweifel wie unseres", schreibt sie in ihrem Buch "Hättiwari". Und kaum ein anderes Land sei so geschickt darin, Verantwortung abzugeben. "Wir sudern, jammern, raunzen und meckern. (...) Dabei leben wir gerne hier und sind stolz auf die hohe Lebensqualität. (...) Bei uns in Österreich lebt es sich doch richtig gut. Nicht wahr? Dennoch tönt es überall von den Alpen, fast schon wie ein Jodler, über die Seen und Berge bis in jedes Dorf hinein: ‚Hätt i ... War i ... Tät i ... Könnt i ..."

Artikel erschienen am 7. Dezember 2012 in: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 4-7

Buchtipp:
Alice Nilsson: "Hättiwari - Der wahre Kern von Österreich". Goldegg Verlag, 22 Euro
Alice Nilsson, Marktforscherin und Gründerin der MarkenStern GmbH, befasst sich in ihrem Buch mit dem urösterreichischen "Hättiwari"-Phänomen, das man ungefähr so umschreiben könnte: "Hätte ich dieses oder jenes getan, wäre mir dieses oder jenes nicht passiert." Wohl wissend, dass man etwas tun hätte können, beklagt man nachher, es nicht getan zu haben. Auf 220 Seiten führt Nilsson etliche Beispiel dafür an, wie der gelernte Österreicher seine Unzulänglichkeiten erkennt - und als unabänderlich verteidigt.