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Schuldet Afrika dem Westen oder schuldet der Westen Afrika?

Von Werner Zips

Politik

Die Karibik-Tagung an der Uni Wien befasst sich ab heute mit dem historischen Unrecht von transatlantischem Sklavenhandel und der Sklaverei in der Neuen Welt. Während ein großer Teil europäischen und amerikanischen Wohlstandes auf ihnen beruht, leiden die Nachfahren der Verschleppten noch heute darunter.


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Seit sich ein "echter" britischer Lord der Sache angenommen hat, ist Bewegung in die Diskussion um Wiedergutmachungszahlungen für die transatlantische Sklaverei gekommen. Es war Lord Anthony Gifford, der vielleicht renommierteste jamaikanische Rechtsanwalt, der seine aristokratischen Kollegen im House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments, an die Mitschuld der englischen Krone an dem "abscheulichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte" erinnerte: Ein Teil des Reichtums heutiger Industrienationen beruht unzweifelhaft auf der Verschleppung und Sklavenarbeit von Millionen von Afrikanern.

Jene Boote, die zu Tausenden beinahe 400 Jahre lang den Atlantik überquerten, waren wirklich voll - mit menschlichem Frachtgut. In den Schiffsbäuchen lagen jeweils mehrere hundert Menschen, aneinandergeschlichtet wie Rohstoffe oder Baumaterialien, über einen Zeitraum von rund sechs Wochen, den die Überfahrt durchschnittlich dauerte. Die Toten blieben an die Lebenden gekettet. Zu gefährlich war der Abstieg in den Frachtraum der Sklavenschiffe, um die Leichen herauszuholen. Brachen Seuchen an Bord aus, darbten die Menschen, in ihren Exkrementen liegend, dem Tod entgegen.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Geschichte der Verschleppung von Millionen von Afrikanern nach den Zucker- und Baumwollplantagen der Karibik und beider Amerika. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund wird sich die VII. Internationale Karibiktagung an der Universität Wien vom 4. bis 7. Juli mit der Zwangsmigration in die Neue Welt und ihren kulturellen Folgen beschäftigen. Nach konservativen Schätzungen wurden 15 bis 20 Millionen Menschen aus Afrika verschleppt. Eine unschätzbar große Zahl starb schon bei den Raubzügen zu ihrer Gefangennahme oder in den "Mauern des Schreckens" - den Sklavenforts an der westafrikanischen Küste. Rechnet man alle Opfer der transatlantischen Sklaverei zusammen, sind auch Schätzungen von 200 bis zu 400 Millionen unmittelbar Betroffener nicht unrealistisch. Bei den Opferzahlen werden regelmäßig alle in der Neuen Welt Geborenen vergessen.

Bis heute gab es keine Form der Genugtuung für die Versklavten oder deren Nachkommen, die nach wie vor an den Folgen der Sklaverei leiden. Für Lord Gifford besteht daher ein kollektiver Anspruch aller betroffenen Afrikaner und Afrikanerinnen auf Reparationen, sowohl in Afrika als auch in der Diaspora. Würde der Westen dieselben Maßstäbe, die er bei seinen Widersachern benützt, bei sich selbst anlegen, wäre die Anerkennung von historischer Schuld und die Bereitschaft dafür (als Nutznießer) einzustehen, genauso eine Frage der Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie wie etwa die Auslieferung von Slobodan Milosevic. Ein solcher Vergleich ist sogar eine glatte Verniedlichung der Sklaverei. Es lässt sich abschätzen, dass die Frage der Reparationen für die Nachkommen der Versklavten zum vielleicht größten Thema des internationalen Menschenrechtsdiskurses am Beginn des neuen Milleniums wird, wie die zentrale These der Rasta-Aktivistin Barbara Makeda Blake Hannah (eine der Referentinnen der Karibiktagung) lautet: "Nicht Afrika schuldet dem Westen, sondern umgekehrt jene Nationen, deren heutige Erben vom Menschenraub und dem Diebstahl natürlicher Ressourcen (etwa von Bodenschätzen) und künstlerischer Zeugnisse (z. B. der Beninbronzen) durch ihre Vorfahren profitierten."

Alle Beteiligten gestehen ein, dass noch unzählige Fragen zu klären sind, bevor das Projekt der Reparationen realisiert werden kann. Zahlreiche Bestimmungen des internationalen Rechts, die ihren Ursprung in fundamentalen Grundsätzen der Gerechtigkeit haben, bilden eine solide rechtliche Basis für die Forderung. Werden diese rechtlichen Grundlagen des Anspruches erst einmal anerkannt, ist es eine Frage des politischen Willens: "Ubi ius, ibi remedium - wo ein Recht existiert, gibt es ein Mittel zur Lösung eines Problems", antwortet Lord Gifford auf die wiederkehrenden Fragen nach der Ernsthaftigkeit und Realisierbarkeit des Anspruches.

Vor einigen Jahren hätte noch eine ernsthafte Entschuldigung der ehemaligen sklavenhaltenden Nationen und ein symbolisches Entgegenkommen durch einen (teilweisen) Schuldennachlass genügt. Nach den Milliardenklagen gegen die Beteiligten am Holokaust ist es mit good will wohl kaum mehr getan: Bei der zweiten Welttagung der Wahrheitskommission für Reparationen und Repatriierung in Ghana im Jahre 2000 einigte sich die Versammlung auf eine konkrete Schadenersatzsumme für die widerrechtliche Entfernung und Zerstörung natürlicher und menschlicher Ressourcen vom afrikanischen Kontinent in den Jahren von 1503 bis zum Ende der Kolonialära in den 1960er Jahren. Die entsprechende Petition an den Internationalen Gerichtshof fordert von den USA, Kanada und Mitgliedern der Europäischen Union die Summe von 777 Milliarden US-Dollar. Jedenfalls genug, um die Auseinandersetzung über Reparationen endlich zu eröffnen. Der Schaden aus einer Verweigerung dieses Diskurses könnte die genannten Kosten freilich noch um vieles übersteigen. Wenn der Stolz der heutigen, nach wie vor von Rassismus betroffenen Generation von Afrikanern und afrikanisch-stämmigen Menschen wieder einmal mit Füßen getreten wird, drohen schwerste interne Konflikte in allen ehemals sklavenhaltenden Staaten.

Genauere Informationen zur Karibiktagung vom 4. bis 7. Juli 2001 an der Universität Wien (Neues Institutsgebäude) siehe: http://www.univie.ac.at/caribbeanconference