Strafausmaß wird erst verkündet. | Bedenken von Präsident Medwedew halfen nichts. | Moskau. Der zweite Prozess gegen Michail Chodorkowski hat eines ganz klar gemacht: Das Vorgehen gegen den aufmüpfigen Oligarchen ist politisch motiviert. Premierminister Wladimir Putin bemüht sich auch gar nicht mehr, dies zu kaschieren. Ohne das Urteil abzuwarten, sagte Putin Mitte Dezember am Fernsehen: "Ein Dieb muss im Gefängnis sitzen." Dann fügte er hinzu: "Wir müssen davon ausgehen, dass Chodorkowskis Verbrechen vor Gericht bewiesen sind." So sah es schließlich auch der Richter. Am Montag wurde der einstige Öl-Magnat schuldig gesprochen. Bis zur Verkündung des Strafmaßes wird es noch einige Tage dauern. | Die alten Oligarchen mussten der KGB-Elite weichen
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Mit seinem Auftritt räumte Putin nochmals alle Zweifel aus: Der Fall Chodorkowski ist seine persönliche Angelegenheit. Als der ehemalige KGB-Offizier im Jahr 2000 Präsident wurde, untersagte er den russischen Wirtschaftsführern, sich in die Politik einzumischen. Doch Chodorkowski, der damals reichste Russe, wollte sich diesem Diktat nicht beugen. Unter anderem finanzierte er weiterhin liberale Oppositionsparteien.
Im Jahr 2003 wurden Chodorkowski und sein Geschäftspartner Platon Lebedew verhaftet. Gleichzeitig trieben die Behörden ihren Erdölkonzern Yukos mit horrenden Steuernachforderungen in den Bankrott. Die besten Teile von Chodorkowskis Imperium erkauften sich danach Staatsfirmen, die von Putins Vertrauensleuten kontrolliert werden.
Ein Gericht verurteilte Chodorkowski und Lebedew 2005 in einem ersten Prozess zu acht Jahren Lagerhaft. Der Hauptvorwurf lautete auf Steuerhinterziehung. Chodorkowski saß seine Strafe in einem sibirischen Gefängnis unweit der chinesischen Grenze ab, Lebedew wurde in eine Anstalt 60 Kilometer nördlich des Polarkreises verbracht. Es war bestimmt eine lange Zeit für die beiden, aber ohne den aktuellen zweiten Prozess wären sie bereits im kommenden Jahr freigekommen.
Yukos und die internen Transferpreise
Deshalb holte man Chodorkowski und Lebedew im Februar 2009 wieder nach Moskau zurück, wo ein weiteres Strafverfahren eingeleitet wurde. Die Grundlage für die erneute Anklage ist die gleiche wie im ersten Prozess: die internen Transferpreise von Yukos. Um die Steuern zu optimieren, verkauften die Yukos-Förderbetriebe das Rohöl weit unter Weltmarktpreis an Yukos-Handelsfirmen in russischen Steueroasen. Diese wiederum verkauften das "Schwarze Gold" billig weiter an Yukos-Töchter in ausländischen Steuerparadiesen.
Praktisch alle russischen Erdölfirmen wickelten ihre Geschäfte auf diese Weise ab. Die russische Justiz ging aber nur gegen Yukos und Chodorkowski vor. Im ersten Prozess behandelte sie die Praxis der internen Transferpreise als Steuerhinterziehung. Im zweiten Verfahren lautet die Anklage jetzt auf Diebstahl. Stark vereinfacht: Chodorkowski hat seine eigenen Förderbetriebe bestohlen, weil er ihnen das Rohöl nicht zu Weltmarktpreisen abkaufte. Dafür fordert die Staatsanwaltschaft jetzt eine Haftstrafe von 14 Jahren. Dies würde für Chodorkowski und Lebedew sechs weitere Lagerjahre bedeuten.
Putins öffentlicheVorverurteilung
Das Strafmaß wird wie in Russland üblich erst nach Verlesung der gesamten Urteilsbegründung bekanntgegeben. Aufgrund von Premier Putins öffentlicher Vorverurteilung dürfte der Richter kaum Milde walten lassen.
An dieser Ausgangslage ändert auch die neutrale Position von Präsident Dmitri Medwedew wenig. Keine Amtsperson dürfe seine Meinung zu einem laufenden Verfahren äußern, sagte das formale Staatsoberhaupt vergangene Woche. Doch in Russland hat letztlich nicht Präsident Medwedew, sondern Premierminister Putin das Sagen.
Manche Beobachter rechnen sogar bereits mit einem dritten Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew. Diesmal wegen der Organisation von Auftragsmorden. Alexej Pitschugin, einst leitender Sicherheitschef bei Yukos, wurde 2007 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Ihm werden fünf Auftragsmorde zur Last gelegt. Die Anklage gegen Pitschugin stützte sich jedoch ebenfalls auf eine sehr dünne Beweislage. Einer der Hauptzeugen war ein Schwerverbrecher.
Das hält Putin aber nicht davon ab, Chodorkowski ohne Beweise auch für diese Morde verantwortlich zu machen. "Glauben sie etwa, dass dieser Leiter des Sicherheitsdienstes alle diese Verbrechen aus eigener Initiative begangen hat?", fragte der Premierminister sein Fernsehpublikum suggestiv.
Möglicherweise wird sich dieser zweite Prozess für Putin aber auch als Bumerang erweisen. Denn noch ist Chodorkowski für die breite russische Bevölkerung kein Märtyrer, sondern ein gescheiterter Oligarch. Sollte die Proteststimmung im Volk angesichts einer stagnierenden Wirtschaft jedoch zunehmen, könnte der unbeugsame Häftling zum Hoffnungsträger des Widerstands werden.