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Schule als soziale Stützstruktur?

Von Erich Brunmayr und Mathilde Stockinger

Politik

Schulsystem ist auf gestörte Kinder zu wenig vorbereitet. | Mehr Investitionen in Professionalität sind notwendig. | St.Pölten/Gmunden. Die jahrzehntelange Philosophie und Praxis im Schulsystem ist primär die Vermittlung kognitiver Fähigkeiten und Fertigkeiten, in neuerer Zeit werden ergänzend dazu sogenannte Unterrichtsprinzipien wie zum Beispiel Erziehung zur Mündigkeit, politische Bildung etc. ebenfalls als Ziele angeführt. In der Praxis bedeutet das, dass Lehrer grob umrissene (Rahmen-)Lehrpläne den von ihnen unterrichteten Schulklassen beziehungsweise Schülern nahe bringen, aber auch zumindest in einigen Problemfeldern Erziehungsaufgaben wahrnehmen sollen.


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Das funktioniert bei halbwegs begabten Kindern und Jugendlichen ganz gut. Probleme fangen dort an, wo kognitiv schwache und/oder verhaltensmäßig auffällige oder schwer eingliederbare Schüler vorhanden sind. Aus unseren empirischen Daten sehen wir ziemlich klar: Rund 15 Prozent der Kinder, im urbanen Raum deutlich mehr - die Grenzziehung ist in solchen Fragen immer heikel -, wachsen in einem Milieu auf, das unter dem Begriff der "Erziehungsverweigerung" zu beschreiben ist: Sie sind emotional, motorisch, sprachlich, sozial, mental und in der Folge davon auch intellektuell vernachlässigt und nicht altersentsprechend entwickelt. Sie sind in der Folge davon nicht in der Lage, am regulären Unterricht ohne markante Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen teilzunehmen.

Politisch verstärken wir diese Tendenz, indem wir uns zwar um die Rechte von Eltern und Elternteil bemühen, den Anspruch und die Rechte der Schwächsten, nämlich der Kinder, aber faktisch nicht unter Rechtsschutz stellen. Eltern, die jegliche Führung und Unterstützung ihrer Kinder verweigern und sich um nichts kümmern, bleiben rechtlich meist unbehelligt. Und das hat Auswirkungen auf das Unrechtsbewusstsein.

Kinder müssen auch das soziale Alphabet lernen

Kinder brauchen ein beträchtliches Ausmaß an emotionaler und sozialer Erfahrung und Reife, um im Schulalltag bestehen zu können. Wir sprechen vom sozialen Alphabet. Haben Kinder hier Schwierigkeiten, ist für sie und mit ihnen schulisches Arbeiten schwer. Bei diesen Kindern treffen wir auf schwer gestörte Entwicklungsprozesse, die von Verhaltensstörungen, manifesten Aggressionen etc. bis hin zu tendenzieller Unbeschulbarkeit reichen, wenn wir nicht professionelle Stütz- und Fördermaßnahmen bieten können.

Für den Umgang mit sozial manifest gestörten beziehungsweise kaum sozialisierten Schülern ist unser öffentliches Pflichtschulsystem wenig vorbereitet. Es wurde auch nie als eine Aufgabe der Schule gesehen, in die elterliche Erziehung einzugreifen oder gar diese Erziehung und Betreuung zu ergänzen oder zu ersetzen. Immer häufiger werden freilich hier und im Ausland Fälle von Gewaltanwendungen in den Schulen bis hin zu medial hochgespielten Amokläufen verhaltensgestörter Schüler sichtbar. Und die Tatsache, dass viele Schüler nicht den erwünschten Hauptschulabschluss schaffen oder ihnen dieser einfach "geschenkt" wird, zeigt ebenfalls, dass neue Probleme vorliegen, denen mit herkömmlichen Instrumenten der Schule nicht ausreichend begegnet werden kann.

Natürlich stellt sich die Frage, ob es eigentlich die Aufgabe der Schule sein kann, markante Sozialisationsdefizite seitens der Eltern sowie des Herkunftsmilieus ausgleichen zu wollen. Das ist in Wahrheit eine politische Entscheidung: angesiedelt im Grenzbereich zwischen Bildungs- und Sozialpolitik.

Die Frage ist, ob wir im Kindesalter in enger Kooperation mit den Schulen Ersatz- und Stützstrukturen schaffen, oder ob wir später viel Geld in den Strafvollzug und in die Resozialisierung investieren wollen. Bekanntlich ist unter Kindern mit Sozialisationsdefiziten die Gewaltaffinität rund 20mal höher als bei "normal sozialisierten" Kindern. Besonders aus diesem Milieu kommen Kinder, die einen Hauptschulabschluss nicht schaffen.

Die Schule mit speziell qualifizierten Stützlehrern und Betreuungslehrern, mit ihren Möglichkeiten, die sie in der Hort- oder der Nachmittagsbetreuung hat, aber auch mit ihrer Tendenz zu kleineren Klassen, hätte gute Voraussetzungen dafür, diese neue Funktion zu übernehmen. Hier muss freilich in Professionalität investiert werden. Hier müsste eine klare Funktionsteilung und Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Therapie und der Sozialarbeit hergestellt und müssten neue Qualitäten der emotionalen Betreuung und der Persönlichkeitsentwicklung, der Kommunikation, der Konfliktbewältigung und der Belastbarkeit entwickelt werden. Eine bloß ganztägige Beaufsichtigung reicht sicher nicht. Wo sonst als in der Schule bestehen Chancen, dem vorprogrammierten Scheitern von Kindern, um die sich niemand kümmert, entgegen zu wirken?

Nicht lamentieren - die Schulpraxis verbessern

Es bringt uns nicht viel weiter, über das Scheitern vieler Familien und Alleinerzieherinnen zu lamentieren. Klüger wäre es, in den Schulen oder in angeschlossenen Einrichtungen eine neue Qualität von Stützstrukturen zur Eingliederungshilfe und zur Lebensvorbereitung für diese unendlich armen, vernachlässigten und meist auch markant misshandelten Kinder zu bieten, denen in der derzeitigen Praxis nur sehr begrenzt positive Lebenschancen geboten werden.

Dr. Erich Brunmayr ist Sozialforscher an der NÖ-Landesakademie, Mathilde Stockinger ist Betreuungslehrerin in Gmunden.