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"Ohne Muttersprache geht nichts." | Änderungen in der Lehrerausbildung? | Wien. Schüler, die keine Sprache mehr richtig und Deutsch nur mangelhaft beherrschen: ein Problem, hervorgerufen durch den hohen Anteil an Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache in Wiener Schulen? Oder ein Fehler im System? "Es ist ein künstliches Problem", meint Hans-Jürgen Krumm, der Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Uni Wien lehrt. "Alle Experten sind sich einig, dass die Kinder eine zweisprachige Erziehung brauchen."
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Das Schulsystem mache viele Kinder zunächst "sprachlos". Wenn die Muttersprache außerhalb der Familie nicht gesprochen werden dürfe, beschädige das das Selbstbewusstsein. Das ist kein geeigneter Nährboden, um eine neue Sprache zu erlernen, so Krumm. Das spiegle sich dann in der Bildungslaufbahn wider. "Man schafft einen ganz schlechten Start."
Eltern sind keine Lehrer
Auch Elisabeth Furch von der Pädagogischen Hochschule Wien bedauert, "dass Kinder nicht richtig in ihrer Zweisprachigkeit wahrgenommen werden." Alles laufe in Richtung Deutsch. Vergessen werde: Deutsch lernen sei nur möglich, wenn die Muttersprache gefestigt ist. "Ohne Muttersprache geht nichts. Nur wenn ich meine Erstsprache gut beherrsche, kann ich eine zweite erlernen." Eltern seien keine Lehrer und bei geringer Bildung werde die Muttersprache daheim auf niedrigem Niveau gesprochen. Kinder müssten in der Schule diese Sprache zuerst perfektionieren.
In den 80er Jahren wurden bei einer Initiative Schüler zunächst in ihrer Muttersprache alphabetisiert, erzählt Furch. Alle Gehversuche in diese Richtung seien aber von der Politik sukzessive abgedreht worden. Krumm verweist darauf, dass in den Anfängen der Regentschaft von Maria-Theresia alle Lehrer zwei Sprachen aus den Kronländern beherrschen mussten. Die Schüler hatten vier Jahre Zeit, Deutsch zu lernen. Das Beharren auf Einsprachigkeit hänge mit der Bildung von Nationalstaaten zusammen.
Krumm räumt ein: Derzeit kämpfe man auch mit dem hohen Anteil von Schülern mit nichtdeutscher Muttersprache (siehe Grafik). Habe bis zu einem Drittel der Kinder eine andere Muttersprache, funktionierte der Spracherwerb meist gut. Alles darüber sei problematisch. Da in Wien der Anteil fremdsprachiger Schüler in manchen Schulformen mehr als 50 Prozent beträgt, würden in einigen Klassen kaum noch Kinder mit Deutsch als Muttersprache unterrichtet.
Vor allem die Wertschätzung anderer Muttersprachen sei wichtig, betont der Linguist. Es gebe bereits Schulen, die in den Unterricht Begrüßungen in den Sprachen aller Kinder einflechten oder Tafeln anbringen, an denen die Herkunftssprachen der Schüler angeführt sind. Wer das Gefühl hat, dass seine Muttersprache wertvoll ist, kann auch sprachliches Selbstbewusstsein entwickeln, um eine weitere Sprache gut zu erlernen. Ein positiver Ansatz sei gefragt - weg vom Defizit-Hervorstreichen. Anstatt zu sagen "Ihr könnt kein Deutsch" könnte man es auch so formulieren: "Ihr könnt so viele Sprachen - und nun lernt ihr eben noch eine dazu."
Nötig seien Pädagogen, die in der Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache ausgebildet sind, so Kumm. Für begabte Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache gibt es oft das böse Erwachen in der AHS: An der höheren Schule stehe die akademische Sprache, die Schriftsprache, im Vordergrund, während die Volksschule heute vor allem auf die gesprochene Sprache fokussiere. Diese Kinder seien dann rasch überfordert. Das sollte sich in der Volksschule ändern.
Fehlendes Fachwissen
Auch Furch fordert Reformen. Eine davon: "Wir brauchen ein Lehramt für Muttersprachenlehrer." Jene Pädagogen, die Kinder im muttersprachlichen Unterricht betreuen, "haben kein Fachwissen über ihre eigene Sprache". Auch sie fordert verpflichtende Didaktik-Module für Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerausbildung und ein Masterstudium für Pflichtschullehrer. "In Wirklichkeit kommt man nur mit reformpädagogischen Unterrichtsansätzen weiter." Frontalunterricht funktioniere nicht, wenn man Schüler mit verschiedenen Muttersprachen gemeinsam unterrichte und der Großteil die Unterrichtssprache kaum verstehe.