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Schuppenträger mit Charakter

Von Kerstin Viering

Wissen
Eigenbrötler oder Gesellschaftstier? Vermutlich Ersteres, doch nicht in jeder Situation verhält sich ein Fisch gleich.
© corbis/Jeffrey Rotman

Auch Fische haben unterschiedliche Persönlichkeiten, die oft über ihren Erfolg im Leben entscheiden.


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Berlin. Fische sind echte Persönlichkeiten. Das weiß man spätestens seit dem Zeichentrick-Film "Findet Nemo". Da besteht das schwimmende Personal aus so unterschiedlichen Typen wie dem ängstlichen Clownfisch-Vater Marlin, der überall Gefahr wittert, und seinem neugierig und draufgängerisch veranlagten Sohn Nemo. Der lässt sich auf eine Mutprobe ein, wagt sich immer näher an ein Boot heran und wird prompt gefangen - der Auftakt zu allerlei Abenteuern.

Wer diese Geschichte für weit hergeholt hält, hat noch nicht mit Robert Arlinghaus und Kate Laskowski gesprochen. Die Wissenschafter des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin erforschen die Persönlichkeiten von Fischen. Und kommen dabei zu erstaunlichen Ergebnissen: Offenbar schwimmen in Seen, Flüssen und Meeren Individualisten, deren Erfolg im Leben zu einem guten Teil von ihrer Persönlichkeit abhängt. "Diese Zusammenhänge sind vielleicht nicht so komplex wie beim Menschen", sagt Laskowski: "Aber das Prinzip ist dasselbe."

Innerhalb der gleichen Art gibt es etwa Angsthasen und Draufgänger. Der eine Fisch ist aktiver, aggressiver oder entdeckungsfreudiger als der andere. Und neben sozial eingestellten Tieren schwimmen Eigenbrötler. Bei zahlreichen Arten, von der Regenbogenforelle bis zum Karpfen, konnten Verhaltensforscher individuelle Unterschiede nacheisen. "Das heißt aber nicht, dass sich ein bestimmter Fisch immer gleich verhält", betont Laskowski. Schließlich fällt es einem kontaktfreudigen Menschen auch nicht immer gleich leicht, auf andere zuzugehen. Doch die Tendenz zu bestimmten Verhaltensweisen scheint sich auch in Fischkreisen durchs Leben zu ziehen.

Wie aber lässt sich herausfinden, welchen Charakter ein Schuppenträger hat? Die Forscher haben den Mut von Karpfen untersucht. Die schwimmenden Kandidaten hatten dabei einen sicheren Unterschlupf und zwei Futterstellen zur Verfügung. Letztere konnten sie nur erreichen, wenn sie eine freie Fläche überquerten, auf der sie möglichen Feinden schutzlos ausgeliefert waren. "Die Risikobereitschaft eines Tieres zeigt sich darin, wie viel Zeit es außerhalb seines Verstecks verbringt und wie oft es die Futterstellen aufsucht", so Arlinghaus. Das Ergebnis hängt allerdings auch von den äußeren Umständen ab. Das haben der Forscher und sein Doktorand Thomas Klefoth herausgefunden, als sie das gleiche Experiment in einem naturnahen Teich und in einem künstlichen Becken durchführten. Die Testfische gehörten zu Karpfenrassen, die für ihre unterschiedlichen Temperamente bekannt sind. So gelten Schuppenkarpfen, die ihren wilden Verwandten ähneln, als Bedenkenträger. Die hochgezüchteten Spiegelkarpfen legen eher das dreiste Verhalten von Haustieren an den Tag.

Im Versuchsteich der IGB-Forscher zeigten sich deutliche Unterschiede: Die mutigen Spiegelkarpfen steuerten ungeschützte Futterstellen viel häufiger an als die scheuen Schuppenkarpfen, die lieber so lange wie möglich in ihrem Versteck blieben. Im Aquarium aber schien es plötzlich keine schwimmenden Angsthasen mehr zu geben. Wo das Wasser keinen Geruch von Raubfischen enthält, wirft auch der schüchternste Schuppenkarpfen seine Zurückhaltung über Bord. Erst als die Forscher Fische mit einer Angel aus dem Becken holten und anschließend vorsichtig wieder zurücksetzten, fielen die Tiere in ihre typischen Verhaltensmuster zurück. "Erst die latente Bedrohung brachte ihr wahres Gesicht zum Vorschein", erläutert Arlinghaus.

Fischerei fördert Faulheit

Das liefert einen Hinweis darauf, wie Tierpersönlichkeiten im Laufe der Evolution entstanden sein könnten. Generell scheinen Feinde, Konkurrenten und andere Herausforderungen die Ausbildung unterschiedlicher Charaktere zu begünstigen. Ist die Lage entspannt, kann man sich mit allen möglichen Verhaltensweisen durchmogeln. Doch wenn es ernst wird, ist Konsequenz gefragt: Man ist entweder Angsthase und geht auf Tauchstation. Oder man wird zum Draufgänger, der bei jeder Gefahr auf Nahrungssuche geht, schnell groß wird und eher den Räubern entwischen kann.

Ein Patentrezept für Erfolg gibt es nicht. "Je nach Situation kann mal der eine Verhaltenstyp im Vorteil sein und mal der andere", sagt Laskowski. Wer mutiger ist, lebt gefährlicher, dafür bekommt er aber auch mehr zu fressen. Lauern kaum Feinde, hat er bessere Karten als seine vorsichtigeren Konkurrenten. In einer riskanteren Umgebung zieht er dagegen eher den Kürzeren.

Gefährlich ist es für Fische heute fast überall. Die Bedrohung geht nicht mehr nur von Raubtiermäulern aus, sondern auch von Netzen und Haken. Was aber bedeutet das für das Verhalten der Tiere? Beeinflusst die Fischerei die Persönlichkeitsentwicklung? Die Forscher sind diesen Fragen mit Computermodellen nachgegangen. Die Fische auf ihren Bildschirmen bewegten sich nach ähnlichen Mustern wie kleine Küstenfische im Mittelmeer. Konfrontiert waren sie mit virtuellen Anglern, die wie ihre realen Kollegen mal von einem festen Standort aus arbeiteten und manchmal mit Booten. So ließ sich simulieren, wie häufig die Fischer und ihre Beute aufeinandertrafen und welche Individuen besonders oft am Haken landeten.

Das Ergebnis passt zu den Erfahrungen von Zeichentrickfisch Nemo: Tiere mit mehr Erkundungsdrang werden eher gefangen, zurück bleiben die wenig entdeckungsfreudigen Exemplare. Der Effekt ist umso stärker, je beweglicher die Angler sind. Und er beschränkt sich keineswegs auf virtuelle Fische. Auch in der Realität ist nachgewiesen, dass sich besonders aktive Karpfen, Regenbogenforellen oder Kabeljaue deutlich leichter fangen lassen als ihre gemütlicheren Artgenossen.

Womit aktivere Fische aus stark befischten Gewässern zu verschwinden drohen. Das könnte weitreichende Folgen haben für Arten, bei denen sich die Draufgänger besser fortpflanzen. Wenn die Erfolgstypen vermehrt am Haken enden, können diese Fischbestände leiden. Etwa sind bei den bei Anglern beliebten Forellenbarschen die Männchen fürsorgliche Väter, die das Nest verteidigen. Am sichersten sollte der Nachwuchs sein, wenn so ein Wachposten aggressiv zu Werke geht. Da aber dann auch die Gefahr am größten ist, einen künstlichen Köder für einen Feind zu halten, landen die aktivsten Brutpfleger leicht an der Angel. Damit werden die Sieger der natürlichen Auslese zu Verlierern: Ein ängstlicher Beschützer ist für den Nachwuchs immerhin besser als ein toter. Nemos Vater hatte das schon ganz richtig erkannt.