Der Verfassungsgerichtshof befasst sich mit dem gültigen Verbot der aktiven Sterbehilfe und der Mitwirkung am Suizid - die Fragen des freien Willens und des Schutzes vor dessen Missbrauch standen am Donnerstag im Vordergrund.
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"Mein Ende gehört mir!", ist in schwarzer Schrift auf einem weißen Banner zu lesen, den eine kleine Aktivistengruppe am Donnerstagvormittag vor den Verfassungsgerichtshof (VfGH) spannt. Sie gehört der "Österreichischen Gesellschaft für ein humanes Lebensende" an, zu dessen Mitgliedern auch Wolfram Proksch zählt - jener Anwalt, der die vier Antragsteller vertritt, die an diesem Tag vor den VfGH geladen sind. Sie hatten sich mit einem Individualantrag an das Höchstgericht gewandt: Denn sie halten die Verbote der aktiven Sterbehilfe (§ 77 des Strafgesetzbuches, "Tötung auf Verlangen") und der Mitwirkung am Suizid (§ 78, "Mitwirkung am Selbstmord"), die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu bestrafen sind, für verfassungswidrig und haben die Aufhebung dieser zwei Bestimmungen verlangt.
Deren Gegenüber am Donnerstag ist die Republik Österreich, vertreten durch Mitglieder der Bundesregierung. Wann eine Entscheidung fällt, ist offen.
Vier Antragsteller, darunter zwei Schwerkranke
Die vier Antragsteller, konkret zwei Schwerkranke, ein Mann, der seiner Frau beim Suizid geholfen hat und strafrechtlich verurteilt worden ist, sowie ein Arzt, argumentieren, dass durch die Rechtslage leidende Menschen gezwungen würden, entwürdigende Verhältnisse zu erdulden oder Sterbehilfe im Ausland in Anspruch zu nehmen - unter Strafandrohung für Helfer. In Österreich sind zurzeit nur die passive Sterbehilfe sowie die indirekte (aktive) Sterbehilfe (§ 49a Ärztegesetz) erlaubt. Erstere ist ein medizinisch begleitetes Sterbenlassen und bedeutet, lebensverlängernde Maßnahmen entsprechend dem Patientenwillen abzubrechen oder zu unterlassen. Bei der Zweiteren wird eine Symptomlinderung durch eine medikamentöse Behandlung vorgenommen, die - unter Umständen als Nebeneffekt - lebensverkürzend wirken kann.
Für Anwalt Proksch sei es nicht verständlich, wie er sagt, warum das Überreichen eines tödlichen Getränks als Mitwirkung am Suizid bestraft wird, das Entfernen zum Beispiel einer Ernährungssonde aber nicht. "Der Sterbewillige entfernt sich die Sonde ja nicht selbst."
Doch ist der Patientenwille wirklich frei? Vor allem, wenn es um eine irreversible Handlung wie Suizid geht? Und sollte man diesem Willen in jedem Fall gerecht werden - also auch, wenn ein gesunder, junger Mensch dahintersteht? Diese Fragen stehen im Zentrum der öffentlichen, mündlichen Verhandlung am Donnerstag vor dem VfGH. Sie tauchen immer wieder auf, werden in unterschiedlichen Zusammenhängen gestellt und scheinen jene Fragen zu sein, die letztendlich polarisieren.
Verdoppelung der Suizidrate durch Sterbehilfe
Dass sich die Verfassungsrichter dabei vor allem auf das Verbot der Mitwirkung am Suizid (§ 78) konzentrieren, wird gleich zu Beginn der Verhandlung klar: Denn die Fragen, die der zuständige Referent Christoph Herbst stellt, beziehen sich ausschließlich auf diese Strafbestimmung.
"Es geht um den freien, unbeeinflussten Willen", sagt Herbst. Und dabei konkret darum, ob erkannt werden könne, dass dieser tatsächlich frei und unbeeinflusst ist. Wichtig sei auch die Frage, ob sich die Gesellschaft dahingehend entwickelt habe, eine gesetzliche Änderung bei der Mitwirkung am Suizid zu wünschen. Dann müsse geklärt werden, wie man möglichen Missbrauch in den Griff bekommen könnte.
Albert Posch, Chef des Verfassungsdienstes im Kanzleramt, zufolge kann Missbrauch nie ausgeschlossen werden. Aufgrund dieses Risikos wiege der Schutz des Lebens schwerer. Zudem sei die Anzahl der Suizide von 1.043 in der Schweiz im Vorjahr, wo der assistierte Suizid erlaubt ist, zwar niedriger als jene in Österreich mit 1.113. Dies aber nur deshalb, weil die 1.019 Fälle von assistiertem Suizid nicht eingerechnet werden. Damit gebe es in der Schweiz "unterm Strich eine Verdoppelung" der Suizidrate durch die Sterbehilfe. Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen ist derzeit zudem in den Niederlanden, Luxemburg, Belgien, Kanada, einigen Bundesstaaten der USA und Australiens, Kolumbien und seit kurzem geschäftsmäßig in Deutschland erlaubt.
Auch Strafrechts-Sektionschef Christian Pilnacek vom Justizministerium sieht mit der geltenden Rechtslage einen "gerechten Ausgleich" zwischen dem Schutz des Lebens und dem Schutz des Rechts auf Privatheit und Autonomie der Betroffenen, die sich aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ergäben. Denn Betroffene hätten ja die Möglichkeit, via Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht Eingriffe abzulehnen.
"Mein Leben ist entwürdigend"
Pilnacek wird von Palliativmediziner Herbert Watzke unterstützt. Es gebe Möglichkeiten für Todkranke, wie sie ihr Leben beenden könnten. "Zum Beispiel, wenn sie zufällig eine Infektion bekommen." Verweigern sie dann die Antibiotikatherapie, wären sie innerhalb weniger Tage tot.
"Ich brauche also nur eine Harnwegsinfektion, eine Blutvergiftung und einen netten Arzt", kontert darauf Nikola Göttling nicht ohne Sarkasmus. Die Antragstellerin ist an Multipler Sklerose erkrankt und im Rollstuhl zur Verhandlung gekommen. Noch seien nur ihre Beine gelähmt, sagt sie. In wenigen Jahren werde sie ihre Arme nicht mehr bewegen können, sie werde gefüttert und gewickelt werden müssen. "Wie ein Baby", sagt sie. "Mein Leben ist entwürdigend." Ihr sei auch "ein Hintertürchen" geboten worden, die Möglichkeit einer Infektion. Darauf wolle sie nicht warten.
Als die Verhandlung nach vier Stunden ohne Entscheidung zu Ende geht, sind auch die Aktivisten vor dem VfGH verschwunden. Nur ein einzelner Mann streckt am Austriabrunnen nahe dem Gebäude auf der Wiener Freyung noch ein Plakat in die Höhe, auf dem geschrieben steht: "Richter sind nicht Gesetzgeber, und Menschen sind nicht Gott."