Nach dem Inferno von New York und Washington müssen die Sicherheitsexperten der US-Regierung umdenken. Ein derartiges Katastrophenszenario mit entführten und in Angriffswaffen umgewandelten Flugzeugen hatte in ihren Planungen keine oder zumindest keine wesentliche Rolle gespielt. Seit dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush wurde die oberste Priorität auf die umstrittene Raketenabwehr Missile Defense (MD) gelegt, die vor Raketenangriffen schützen soll.
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Auch wenn der Raktenschild schon fertig gewesen wäre - vor den Attacken der Terroristen hätte er nicht geschützt. Die sicherheitspolitischen Prioritäten werden deshalb jetzt neu definiert. Der Schutz des Luftverkehrs rückt ganz nach oben auf die Tagesordnung. MD wird vorerst nicht mehr im Vordergrund der Planungen stehen.
Die Regierung werde nun "alle Aspekte der Sicherheitspolitik" neu überprüfen, sagt Bernard Reich, Politologe an der George Washington University, voraus. Noch vor wenigen Wochen hatte Bush gesagt, die "wahren Bedrohungen" gingen von Massenvernichtungswaffen aus, die von "Schurkenstaaten" eingesetzt würden. Unter dem Stichwort der "asymmetrischen" Bedrohung" - der Bedrohung des Starken durch den Schwachen - konzentrierten sich die Sicherheitsplaner der USA schon seit Jahren neben der Raketenabwehr auf den Schutz vor Atombomben, biologischen und chemischen Waffen, sowie vor digitalen Angriffen auf Computersysteme. Die Gefahr eines aus dem eigenen Land heraus geführten Angriffs mit gekaperten Flugzeugen sei "nicht wirklich bedacht" worden, so Reich.
Derartigen Bedrohungen mit "konventionellen" Waffen müsse nun wieder "viel mehr Aufmerksamkeit" gewidmet werden, fordert Bushs republikanischer Parteifreund Earl Blumenauer, der sich im Kongress mit dem Schutz von Flugzeugen befasst. Neben den bevorstehenden Militärangriffen gegen mutmaßliche Terroristen und ihre Helfer bekommt der Schutz des Luftverkehrs oberste Priorität. Bewaffnete Flugbegleiter werden nun wieder in zahlreichen Maschinen mitfliegen, wie dies schon zu früheren Zeiten der Fall war. Auch die als zu lax kritisierten Gepäckkontrollen sollen verschärft werden. Bisher liegen sie in der Hand von Privatfirmen, die häufig schlecht ausgebildetes Personal beschäfigen. Künftig wird dieser Job möglicherweise von Sicherheitspersonal der Bundesregierung übernommen.
Mit diesen neuen Prioritäten werden die Pläne für den Raketenschild zwar nicht in der Schublade verschwinden. Bush wird das Projekt weiter verfolgen, wenn auch sicherlich mit zunächst reduziertem Tempo. Die Frage wird allerdings sein, ob das Budget für den Raketenschild weiter gestutzt wird; schon wenige Tage vor den Terroranschlägen hatten die Demokraten im Senat die Mittel für MD bereits um 20 Mrd. Schilling gekürzt. Der Politologe Reich glaubt allerdings, dass die Mittel für die derzeit vorbereiteten Anti-Terror-Maßnahmen auch ohne Streichungen an MD aufgebracht werden können: "Die USA sind groß genug, um Dinge gleichzeitig zu tun", sagt er.