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Schutzengel Nato

Von Alexander Dworzak

Politik

Die Parlamentswahl in Estland steht im Zeichen der Ukraine-Krise. Nur Nato-Verfechter kommen für eine Koaliton infrage.


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Tallinn/Wien. Der jüngste Regierungschef in der EU, Schüler, die ab der ersten Klasse Programmieren lernen und Vorreiter bei der elektronischen Stimmabgabe bei Wahlen: Estland bietet viele spannende Facetten. Doch derzeit konzentriert sich das Land auf ganz anderes. Die Ukraine-Krise dominiert den Staat am Finnischen Meerbusen - und das nicht erst im Wahlkampf für die am Sonntag stattfindende Parlamentswahl.

Als Hardliner wird Estland - ebenso wie Polen - gerne in Brüssel bezeichnet, wenn es um scharfe EU-Sanktionen gegen Russland geht. Die klare Haltung speist sich aus der eigenen, traumatischen Geschichte: Erst 1991 erlangte Estland wieder seine Unabhängigkeit, nach 50 Jahren Besetzung und mit dem Zerfall der Sowjetunion. Dementsprechend sensibilisiert verfolgen die Bürger die geopolitischen Manöver des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der den Untergang der UdSSR einst als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" tituliert hatte.

Analogie zu 1938

"Wir leben nicht länger in einem friedlichen Europa", schmetterte der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves seinem Amtskollegen Heinz Fischer bei dessen Visite in Tallinn im vergangenen Sommer entgegen. Der Kontrast hätte nicht größer sein können: auf der einen Seite Neutralitäts-Verfechter Fischer, der erst kurz vor seiner Reise Putin in Wien empfing und dafür plädierte, die diplomatischen Diskussionkanäle offenzuhalten. Auf der anderen der Präsident eines Nato-Landes, der in den USA studierte und während der Sowjetzeit für den US-finanzierten Sender Radio Free Europe arbeitete. Auch zog Ilves Parallelen zwischen der russischen Krim-Annexion und jener des Sudetenlandes durch Hitler-Deutschland 1938.

Mit seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber Russland ist Präsident Ilves keine Randerscheinung, sondern vertritt den politischen Mainstream Estlands. Die amtierende Regierung, bestehend aus der wirtschaftsliberalen Reformpartei von Premier Taavi Roivas und den Sozialdemokraten, gilt obendrein als Liebkind der Nato. Von 14 der 28 Mitgliedsstaaten des westlichen Bündnisses, die ihre Wehretats für 2015 bereits bekanntgegeben haben, erreichen nur die USA und Estland die Marke von mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Bereits vor sechs Jahren errichtete die Nato ihren Think Tank "Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence" in Tallinn.

Nato-Staat zweiter Klasse

Die seit 2004 bestehende Zugehörigkeiten zur Nato - im selben Jahr erfolgte auch der EU-Beitritt - sehen Estlands Politiker als Schlüssel zum Erhalt ihrer Unabhängigkeit. In außen- und sicherheitspolitischen Fragen besteht Konsens, an diesem rütteln auch nicht die führenden Oppositionsparteien; die Zentrumspartei und das Nationalistenbündnis IRL. Die Regierung strebt vielmehr eine weitere Vertiefung an. Denn trotz der hohen Verteidigungsausgaben wäre Estland bei Angriffen auf sein Territorium chancenlos, der Staat verfügt nicht einmal über eigene Kampfjets. "Estland hätte gerne dauerhaft stationierte Nato-Truppen im Land", sagt Mika Aaltola gegenüber der "Wiener Zeitung". Aaltola lehrt an der Universität Tallinn und leitet zudem das Programm zu globaler Sicherheit am Finnischen Institut für Internationale Beziehungen. Ihm zufolge glaubten viele Esten, amerikanische Truppen würden US-Hilfe im Falle eines Konflikts gegen Russland garantieren.

Der Beistand der USA gegenüber den baltischen Staaten sei unzerbrechlich, felsenfest und ewig. "Estland wird niemals allein dastehen." Das verkündete US-Präsident Barack Obama vergangenen September in Tallinn. Schöne Worte, doch die Esten sehnen sich nach Taten. Sie sind aber nicht einfach umzusetzen. Denn die Grundvereinbarung der Nato mit Russland aus dem Jahr 1997 legte auch Beschränkungen bei der dauerhaften Stationierung von Truppen in Osteuropa fest. Derzeit sind lediglich einige hundert Soldaten für wenige Monate vor Ort stationiert, zum Beispiel am Luftwaffenstützpunkt Ämari. Dann müssen sie abziehen. Estlands Präsident Ilves hält auch hier mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg: Russland habe die Bestimmungen der 1997 getroffenen Vereinbarung verletzt und eine "unvorhersehbare und neue Sicherheitsumgebung" geschaffen. "Wenn eine Vereinbarung in bestimmen Teilen nicht mehr gilt, ist es an der Zeit, etwas zu ändern." Darauf lässt sich die Nato aber nicht ein. Estland fühle sich dadurch wie ein Nato-Mitglied zweiter Klasse, sagt Aaltola.

Doch ist eine militärische Bedrohung Estlands realistisch? Immerhin ist man als Nato-Mitglied durch die sogenannte Beistandspflicht geschützt. Das Washingtoner Abkommen besagt, dass ein bewaffneter Angriff auf ein Mitgliedsland einen Angriff auf alle Nato-Länder bedeutet. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde jener Artikel 5 ausgerufen. "Artikel 5 befasst sich mit kriegerischen Akten. In Graubereichen, die noch keine solchen bedeuten, könnte Russland operieren", erklärt Forscher Aaltola. Wann die Beistandspflicht ausgerufen wird, ist also Ermessenssache und nicht exakt festgelegt.

Estland, aber auch Lettland und Litauen, wappnen sich daher für einen "Hybrid-Krieg" von Russland. Dieser beinhaltet klassische Militäreinsätze mit plötzlichen Manövern - selbstredend ohne Hoheitsabzeichen der Kämpfer -, Desinformation und Computerangriffe sowie wirtschaftlichen Druck, etwa in Bezug auf die Energieversorgung. Bereits seit Jahren versucht Estland, seine Energieabhängigkeit von Russland zu vermindern. Zwar wird der Gasbedarf noch immer ausschließlich durch Importe aus dem ungeliebten Nachbarland gedeckt, allerdings macht Gas mittlerweile nur 8,6 Prozent des gesamten Energieverbrauchs aus.

Mindestlohn und Flat Tax

Einen propagandistischen Hebel hat der Kreml dank der russischen Minderheit in Estland. Rund ein Viertel der 1,3 Millionen Bürger Estlands sind ethnische Russen. Wie in Lettland ist das Zusammenleben zwischen den Bevölkerungsgruppen nicht immer spannungsfrei. Im Gegensatz zur Partei Harmonisches Zentrum in Lettland gibt es in Estland jedoch keine dezidierte Partei für die Russischsprachigen. Am ehesten fischt der Tallinner Bürgermeister Edgar Savisaar mit seiner populistischen Zentrumspartei in diesem Wählersegment. Aber auch sie ist auf Nato-Kurs, jedoch leicht auf der Bremse statt mit Vollgas wie die Regierung.

Damit die russischsprachigen Bürger - 16 Prozent der Bevölkerung besitzen nicht die Staatsbürgerschaft, für die Estnisch-Kenntnisse erforderlich sind - nicht nur Putin-treue russische TV-Sender konsumieren, strahlt der estnische Rundfunk seit Jänner ein wöchentliches Nachrichtenmagazin in russischer Sprache aus.

Umfragen sehen die Zentrumspartei mit 22 Prozent Kopf an Kopf mit der Reformpartei von Premierminister Roivas. Dahinter liegt Roivas’ sozialdemokratischer Koalitionspartner mit 20 Prozent, IRL kommt auf 14 Prozent. Mit der populistischen Anti-Korruptionspartei Freie Partei und der weit rechts stehenden Konservativen Volkspartei schaffen zwei neue Gruppierungen den Einzug in das estnische Parlament Riigikogu. Doch selbst wenn die Zentrumspartei die Wahl gewinnt, stehen ihre Chancen auf den Premier schlecht. Denn aufgrund ihres Nato-Kurses fehlen ihr Koalitionspartner, zu stark ist der außen- und sicherheitspolitische Common Sense. Dabei haben Zentrumspartei und Sozialdemokraten gemeinsame Anliegen, etwa die Abschaffung des einheitlichen Einkommensteuersatzes von 21 Prozent. Estland war der erste Staat, der die Flat Tax einführte, 1994. Auch wollen beide eine drastische Erhöhung des Mindestlohns: die Sozialdemokraten von 355 auf 800 Euro, die Zentrumspartei gar auf 1000 Euro.

Ein LanD im Digitalisierungsfieber

Wenn die Esten am Sonntag ein neues Parlament wählen, werden sich viele Bürger nicht in die Warteschlange vor den Wahllokalen einreihen, um ihr Kreuz auf einen Stimmzettel zu setzen. Denn fast zehn Prozent der Wahlberechtigten haben von der seit nunmehr zehn Jahren bestehenden Möglichkeit des "E-Voting" Gebrauch gemacht und ihre Stimme bereits Tage vor dem eigentlichen Wahltermin abgegeben.

Estland ist in dieser Hinsicht ein Pionier, der Urnengang 2005 war weltweit die erste landeweite Wahl, bei der die elektronische Stimmabgabe zugelassen war. Doch nicht nur in Sachen E-Voting hat es das kleine Land im Baltikum geschafft, zu einer der innovativsten und technologisch fortschrittlichsten Nationen zu werden. Die Basis dafür legte Estland bereits im Jahr 1999. Während in vielen anderen europäischen Ländern die Computer erst langsam in die Haushalte einzogen, entschied die estnische Regierung bereits, komplett papierlos arbeiten zu wollen. Heute regiert man nicht nur ohne Papierstapel, sondern auch komplett mobil. Tablets und Laptops gehören zur Standardausrüstung der Kabinettsmitglieder.

Darüber hinaus garantiert die estnische Verfassung ihren Bürgern seit dem Jahr 2000 einen Zugriff auf das Internet. Das führt dazu, dass kostenloses WLAN in Estland quasi allgegenwärtig ist und auch entlegene Regionen über Breitbandanschlüsse angebunden sind. Fast im ganzen Land ist auch der superschnelle Mobilfunkstandard 4G verfügbar.

Auch die staatlichen Dienstleistungen tragen dem Bekenntnis zur Digitalisierung Rechnung. Mittels Identitätskarten haben die Bürger Zugriff auf ihre Steuererklärung und die virtuelle Gesundheitsdatenbank, das digitale Signieren funktioniert vergleichsweise unkompliziert, so die "Neue Zürcher Zeitung". Das Angebot wird von den Esten auch gerne angenommen. Im vergangenen Jahr wurden bereits 95 Prozent der Steuererklärungen online ausgefüllt. Die Bearbeitung erfolgt dann übrigens binnen fünf Tagen.