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"Schwarmintelligenz" und Nichtwähler punkten beträchtlich

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland der "Salzburger Nachrichten".
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In Nordrhein-Westfalen wird sich am Sonntag herausstellen, ob der Höhenflug der Piraten und der Überlebenskampf der FDP anhalten.


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Die Wahlen in Nordrhein-Westfalen dürften bekräftigen, was Umfragen seit Wochen feststellen - neun Prozent Zuspruch für die Piraten. Bei den Wahlen in Berlin sammelten sie 8,9 Prozent der Stimmen, an der Saar 7,4, in Schleswig-Holstein 8,2.

Spannend dürfte die Wahlbeteiligung werden. In Berlin stieg sie von 58 auf 60 Prozent, macht 40 Prozent für die "Partei der Nichtwähler" oder 12 Punkte mehr als der Wahlsieger SPD. An der Saar ging die Wahlbeteiligung von 68 auf 62 Prozent zurück, womit die Nichtwähler um drei Punkte vor dem Wahlsieger CDU blieben. In Schleswig-Holstein stieg die Wahlabstinenz von 27 auf 40 Prozent, um zehn Punkte besser als der Wahlsieger CDU. Verweigerte Stimmen zählen nicht. Aber die Piraten überholten auf Anhieb etablierte Parteien wie die FDP oder die Linkspartei, weil sie im Durchschnitt knapp ein Drittel ihrer Stimmen von ehemaligen "Nichtwählern" bekamen.

Das Ergebnis in Schleswig-Holstein lässt aufhorchen. Bundesweit grundelt die FDP in Umfragen bei gut 3 Prozent, einem Fünftel ihres Rekordergebnisses von 15 Prozent bei der Bundestagswahl 2009. In Berlin und an der Saar flog sie aus den Landtagen, im Norden aber landete sie mit 8,2 Prozent gleichauf mit den Piraten. Das ist ein blauer Lichtblick für den Parteirebellen Wolfgang Kubicki. Dieses eigenwillige Nordlicht kritisiert die FDP-Führung als unfähig, geht seinen eigenen Weg und schläft lieber seinen Siegesrausch in Kiel aus, statt mit der Chefität Philipp Rösler & Co. In Berlin zu feiern. Aufbegehren gegen Zentralmacht lohnt sich somit. Ob der FDP-"Wunderwuzzi" Christian Lindner Kubickis Vorgabe schafft, ist eher fraglich.

54 Prozent der Deutschen halten die Piraten für das Sammelbecken der Unzufriedenen. Offensichtlich sind sie ein Kontrast zu den etablierten Parteien und das macht sie sympathisch: offen, frisch, unkonventionell, ohne vorgestanzte Sonntagsrhetorik, bürgernah, basis-

demokratisch. Sie artikuliert mit der Forderung nach beinahe totaler Transparenz latentes Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment - das nicht gerade intelligent mit "Chaostruppe" kontert. Die äußere Form stimmt, hat aber wenig Inhalt.

Es stört die Piraten kaum, dass sie mangels ausgereiften Programms und straffer Parteiorganisation für keine Koalition taugen. Sie wollen in der Opposition "Politik lernen". Das bürgt für Ungemach, weil nach einer Legislaturperiode die Leistungsbilanz für die Wiederwahl fällig ist. Schwedens Piraten stürzten deshalb von 50.000 auf 8000 Mitglieder ab. Per Internet organisierte Abstimmungen und gesammelte "Schwarmintelligenz" sind zwar basisdemokratisch, aber ohne straff strukturierten Parteiapparat eher wirkungslos. Bis jetzt trieb das parteipolitische Establishment den Piraten politische Deserteure zu. Diese wollen Erfolge sehen. "Schwarmintelligente" Opposition reicht aber nicht für politische Gestaltung. Die "Partei der Nichtwähler" könnte also wieder wachsen, selbst wenn sich in Nordrhein-Westfalen die neun Prozent ausgehen.