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Schwedens Schüler schwächeln

Von Gerhard Austrup

Politik

Nur 60 Prozent lesen auf dem nötigen Niveau. | Untersuchungen der Gesamtschule ernüchternd. | Bochum/Stockholm. Wenn man die bildungspolitische Diskussion in Schweden verfolgt, ist man verwundert, welches positive Bild des schwedischen Bildungswesens im deutschsprachigen Raum vermittelt wird. Denn seit Jahren ist die Krise des sozialdemokratisch geprägten Ausbildungswesens ein zentrales Thema in der schwedischen Öffentlichkeit.


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Die letzten internationalen und nationalen Studien bescheinigen schwedischen Jugendlichen nur noch Mittelmaß in ihren Lernleistungen, vor allem in Mathematik und in den Naturwissenschaften, aber auch im Leseverstehen und in Schwedisch. Die Grünen, Koalitionspartner der regierenden Sozialdemokraten, gehen ebenso wie die bürgerliche Opposition in der Bildungspolitik auf Distanz: "Wir sind tief beunruhigt über die Entwicklung in der schwedischen Schule. Nur 60 Prozent der männlichen 15-Jährigen lesen auf einem Niveau, wie es in der Erwachsenenwelt nötig ist. Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern haben schwedische Schülerinnen und Schüler an Boden verloren."

Kürzlich fasste die nationale Bildungsagentur die Ergebnisse der aktuellen Schulinspektionen im Lande so zusammen: "Unzureichender Einsatz für Schülerinnen und Schüler, die den größten Bedarf an Hilfe haben." Zwar dominiert der Gleichheitsgedanke seit Jahrzehnten das Bildungswesen, doch in der Nutzung von Bildung bestehen weiterhin große soziale Unterschiede.

Mängel in der Ausbildung

Der neunjährigen Gesamtschule (grundskola) als Regelschule für alle schließt sich die dreijährige Gymnasialschule an (gymnasie-skola), bisher von mehr als 90 Prozent der Jugendlichen besucht, in der ein großer Teil der Berufsausbildung erfolgt. Wenn am Ende der Klasse 9 der Schulwechsel ansteht und die Gymnasialschulen in Anzeigen und Farbbroschüren ihre Vorzüge anpreisen, können schwedische Jugendliche aus einem Angebot von 16 Ausbildungsprogrammen wählen, von denen zwei vor allem auf ein Studium und die anderen in erster Linie auf einen Beruf vorbereiten. Die Gesamtschule, in der Hausaufgaben kein besonderes Gewicht haben und Zeugnisse erst in den beiden letzten Jahren erteilt werden, steht zwar nicht zur Diskussion, sie ist jedoch in die Kritik geraten, weil zu viele Jugendliche sie ohne solide Grundkenntnisse verlassen. So erreicht in den letzten Jahren ein Viertel der Buben und Mädchen in Klasse 9 keine ausreichenden Leistungen in einem oder mehreren Fächern. Die Ergebnisse der letzten landesweiten Untersuchung der Gesamtschule waren ernüchternd. Die staatliche Schulbehörde ist beunruhigt und betreibt vorsichtige Ursachenforschung: Die Kurspläne und Beurteilungskriterien seien wohl nicht eindeutig, die Lehrer verunsichert, in den höheren Klassen der Gesamtschule hätten nur 60-70 Prozent der Unterrichtenden eine fachliche und pädagogische Ausbildung, ein Vorwurf an die für die Einstellung zuständigen Kommunen.

Im Kreuzfeuer der Kritik steht auch die Gymnasialschule, auf die fast alle Jugendlichen nach der Regelschule wechseln. Doch jeder Vierte schafft innerhalb von vier Jahren nicht den Abschluss, obwohl eigentlich nur drei Jahre vorgesehen sind. Die Regierung hält an ihrem ehrgeizigen Ziel fest, dass die Hälfte eines Jahrgangs eine Hochschule besucht. Die gut gemeinte Umsetzung des Gleichheitsgedankens trifft besonders die leistungsschwächeren Schüler, denn früher zweijährige Ausbildungsprogramme wurden zu dreijährigen aufgestockt, der Theorieanteil des Unterrichts erhöht. So ist es kein Wunder, dass schwache und lernunwillige Jugendliche ohne vollständige Zeugnisse der Gesamtschule im "individuellen Programm" landen, frustriert und nicht selten gewalttätig, sofern sie überhaupt zur Schule kommen.

Bürgerliche wollen Reformen

Deshalb verlangen die bürgerlichen Parteien, die möglicherweise die Regierung im Herbst 2006 übernehmen, eine neue Gymnasialschule, in der künftige Akademiker die erforderlichen Kompetenzen erwerben und die theoretisch weniger Begabten gezielt auf einen Beruf vorbereitet werden. Die bürgerliche Allianz will außerdem mehr Ordnung und Ruhe in den Schulen, mehr Wissensüberprüfungen, Zeugnisse von Klasse 6 an sowie mehr Speziallehrer in der Gesamtschule, damit nicht so viele Jugendliche mit Defiziten in die Gymnasialschule gelangen. Die Regierung deutet Veränderungen an: Die Sprachen und Mathematik erhalten beim Hochschulzugang einen höheren Stellenwert. Ferner will man die zu lasche Ausbildung der Lehrer verbessern, deren Ansehen und Bezahlung deutlich geringer ist als in Österreich.

Deutlich kritisch zu Resten der alten sozialistischen Ideologie äußerte sich der bekannte Sozialdemokrat und Ex-Diplomat Sverker Åström: "Die äußerst ehrenwerte Ambition, der von der Sozialdemokratie, aber auch anderen Parteien gehuldigt worden ist, den obligatorischen Schulgang als Instrument für sozialen Ausgleich und ein größeres Verständnis zwischen den Klassen der Gesellschaft einzusetzen, wurde für Lehrpläne, Pädagogik und Organisation bestimmend, doch leider zu Lasten der alten Hauptaufgabe der Schule, Kenntnisse und ein gewisses Maß an Allgemeinbildung zu vermitteln."

Der Autor lebt in Bochum und hat acht Jahre in Schweden unterrichtet, davon zwei Jahre als stellvertretender Leiter der Deutschen Schule in Stockholm.