Eineinhalb Wochen vor der Parlamentswahl in Polen ist der Wahlkampf fast völlig zum Erliegen gekommen. Angesichts der Terroranschläge in den USA hatten die wichtigsten Parteien beschlossen, ihre Werbeaktivitäten zu beschränken oder überhaupt einzustellen. Am voraussichtlichen Wahlausgang wird dies wenig ändern: Der überlegene Sieg der Linksdemokraten scheint sicher. Er könnte ihnen jedoch bitter schmecken.
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Für historisches Heldentum ist im heutigen Polen kaum noch Platz. Zwar sind die Verdienste der Gewerkschaftsbewegung keineswegs vergessen. Doch die Wahlaktion Solidarnosc - das noch 1997 siegreiche Bündnis aus über 30 Parteien - ist mittlerweile zerfallen und muss sogar um den Wiedereinzug ins Parlament bangen. Die meisten Stimmen wird kommenden Sonntag wohl der Bund der Demokratischen Linken (SLD) erhalten: Umfragen zu Folge wollen knapp 50 Prozent die Nachfolgepartei der KP wählen. Sie war bereits von 1993 bis 1997 an der Macht.
Vor finanziellem Abgrund
Insgesamt acht Parteien und Bündnisse treten zur Wahl an; sechs von ihnen werden realistische Chancen eingeräumt, im Sejm, dem Abgeordnetenhaus, vertreten zu sein (siehe Kasten rechts). Unter ihnen befinden sich die erst heuer gegründete Bürgerplattform (PO), die auf 14 Prozent der Stimmen kommen könnte, und die erstarkende Bauernpartei PSL (9 Prozent). Die Freiheitsunion (UW), die bis zum Vorjahr mit der Wahlaktion Solidarnosc die Regierungskoalition bildete, könnte an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern.
In einem Hirtenbrief, der vergangenen Sonntag in den Kirchen verlesen wurde, warnten polnische Bischöfe die Gläubigen davor, ihre Stimme Gruppierungen zu geben, "die an das Gedankengut der kommunistischen Partei anknüpfen". Doch in dem Land, in dem sich knapp 93 Prozent der Bevölkerung als KatholikInnen bezeichnet, treten nun andere Probleme in den Vordergrund als "Aufweichung" des Abtreibungsgesetzes oder Legalisierung der Euthanasie, was der Ständige Rat des Episkopats befürchtet.
Denn Polen steht nicht so sehr moralisch wie finanziell vor dem Abgrund. Als Finanzminister Jaroslaw Bauc im August verkündete, dass für kommendes Jahr ein Budgetdefizit in Höhe von bis zu 90 Milliarden Zloty (rund 330 Mrd. Schilling) drohe, war er nach einer Schrecksekunde von Ministerpräsident Jerzy Buzek auch gleich entlassen. Expert-Innen bestätigten trotzdem kurz darauf die Annahmen von Bauc. In ihrem Budgetentwurf musste die Regierung das Defizit für 2002 mit 40 Milliarden Zloty und damit vier Prozent des BIP fest schreiben.
Auch sonst schaut es nicht unbedingt rosig aus, in dem 39- Millionen-EinwohnerInnen-Staat. Die in früheren Jahren hervorragenden Wachstumsraten sinken; für heuer wurde die Prognose auf 2,5 Prozent zurückgenommen. Die Arbeitslosigkeit steigt; sie liegt nun bei etwa 17 Prozent. Von der Vorreiterrolle, die Polen bei Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union noch vor kurzem eingenommen hat, ist nur noch wenig zu merken. Die Inflation ist hoch, die Pro-Kopf-Kaufkraft eine der niedrigsten innerhalb der mitteleuropäischen Staaten.
Wer also nach dem 23. September die Regierungsmacht übernimmt, wird es schwer haben, sich an ihr zu erfreuen. Mit einer Reihe von Reformvorhaben und -versprechen ist schon die Wahlaktion Solidarnosc 1997 angetreten. Zu Gute halten kann sie sich wichtige Neuerungen in den Bereichen Verwaltung, Gesundheit, Pensionen und Bildung - und in einem Fall Kontinuität. Immerhin ist Jerzy Buzek der erste Regierungschef seit 1989, der eine ganze Legislaturperiode übersteht. Er ist allerdings eine der Ausnahmen: Von den 22 MinisterInnen, die 1997 mit ihm vereidigt wurden, sind gerade noch fünf im Amt.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es wohl die Postkommunisten sein werden, die Polen in die EU führen. Auf der anderen Seite ist dies eine Fortführung ihrer Regierungsarbeit vor 1997. Schon damals kennzeichnete den Kurs der SLD strikt marktwirtschaftliche und pro-westliche Orientierung. Doch nicht zuletzt Korruption und Günstlingswirtschaft wurden ihr zum Verhängnis - ein Vorwurf, mit dem sich aber auch die Wahlaktion Solidarnosc in den letzten Jahren konfrontiert sah.
Die vordergründigen Ziele sind aber zunächst, die polnische Wirtschaft anzukurbeln oder die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Genaue Pläne zur Sanierung des Staatshaushalts hat allerdings auch SLD-Vorsitzender Leszek Miller - mit hoher Wahrscheinlichkeit Polens nächster Ministerpräsident - noch nicht vorgelegt. Denn sie würden wohl ebenso tiefgreifende wie unbeliebte Maßnahmen enthalten, etwa eine völlige Umstrukturierung des Sozialbereichs. Mit derartigen Ankündigungen traut sich jedoch noch keine der Parteien an die Öffentlichkeit - vor allem nicht, wenn Wahlen anstehen.