Zum Hauptinhalt springen

Schweizer Abschied auf Raten von der Atomkraft

Von Oliver Pfadenhauer

Wirtschaft
Das 14 Kilometer westlich von Bern gelegene AKW Mühleberg wurde Ende 2019 nach 47 Betriebsjahren abgeschaltet.
© Oliver Pfadenhauer

Die Eidgenossen leisten mit der Demontage des Kernkraftwerks Mühleberg Pionierarbeit.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Stilllegung und der Rückbau eines Atomkraftwerks sind höchst komplexe und langwierige Prozesse. Diese Erfahrung macht gerade die Schweiz. Mit dem AKW Mühleberg wurde kurz vor Weihnachten erstmals in der Landesgeschichte ein kommerziell betriebenes Kernkraftwerk definitiv abgeschaltet. Die Demontage wird die Fachkräfte jedoch noch mehr als ein Jahrzehnt beschäftigen.

Fünf kommerzielle Kernkraftwerke gibt es in der Schweiz, wobei das älteste bereits seit 1969 in Betrieb ist. Während dessen Eigentümer Axpo in den vergangenen Jahren 700 Millionen Franken (660 Millionen Euro) in die Modernisierung investierte und damit die Voraussetzung schaffte, um die Anlage weiterbetreiben zu dürfen, entschloss sich die BKW 2013, ihr Kernkraftwerk Mühleberg aus unternehmerischen Gründen per Ende 2019 nach 47 Betriebsjahren abzuschalten und sofort mit der Stilllegung und dem Rückbau zu beginnen. Laut BKW hätte sich eine Nachrüstung für einen sicheren Langzeitbetrieb aufgrund der prognostizierten Strompreisentwicklung nicht gelohnt. Die frühzeitige Festsetzung des Abschaltdatums ermöglichte wiederum eine weitsichtige Planung, wobei auch Pionierarbeit geleistet wurde. Denn das AKW Mühleberg ist der erste Leistungsreaktor, der unter schweizerischen Vorschriften stillgelegt und zurückgebaut wird. Das entsprechende Prozedere musste in Abstimmung mit den Behörden erst entwickelt werden.

Schrittweiser Ausstieg ohne konkreten Zeitplan

Wie in Deutschland wurde infolge der Reaktorkatastrophe von Fukushima in Japan vor neun Jahren auch in der Schweiz der schrittweise Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen - allerdings ohne konkreten Termin. Während in Deutschland das letzte AKW 2022 vom Netz gehen soll, dürfen die bestehenden Schweizer Kernkraftwerke so lange in Betrieb bleiben, wie sie die Eidgenössischen Nuklearsicherheitsbehörde als sicher einstuft. AKW-Neubauten werden aber nicht mehr bewilligt.

Weltweit wurden laut BKW bereits rund 110 kommerziell betriebene Kernreaktoren sowie rund 45 Prototypen und Experimentalreaktoren abgeschaltet, 15 davon sind vollständig demontiert. Dazu mussten Methoden, Maschinen und Instrumente teilweise neu entwickelt werden, um die speziellen Anforderungen in einem Kernkraftwerk zu erfüllen. Von diesem Know-how profitiert das AKW Mühleberg, das einen regen internationalen Erfahrungsaustausch pflegt.

Nachdem das AKW am 20. Dezember vom Netz genommen worden war, wurde am 6. Jänner wie geplant mit den Vorbereitungen für den Rückbau begonnen. Um im Maschinenhaus Platz zu schaffen, wurden die acht bis zehn Tonnen schweren Splitterschutzsteine demontiert, die die Turbinen umzäunten. Gereinigt und freigemessen, durften die ersten am 19. Februar abtransportiert und der Wiederverwertung in der Zementproduktion zugeführt werden.

Trotz Corona-Pandemie schreiten die Arbeiten planmäßig voran. Wie alle Schweizer AKW hatte Mühleberg schon zuvor ein Pandemiekonzept, das sofort angewendet werden konnte, sodass die behördlichen Corona-Maßnahmen den Terminplan für die Stilllegung bisher nicht beeinflussen. Ende März wurde denn auch mit der Öffnung des Reaktordruckbehälters und der Verlagerung aller Brennelemente ins Lagerbecken ein erster Meilenstein erreicht. Das Kühlsystem wird nun so umgebaut, dass das Brennelementlagerbecken gegen Jahresende autonom betrieben werden kann, was als definitive Außerbetriebnahme bezeichnet wird.

Der vollständige Rückbau dauert voraussichtlich bis 2034. Das Ziel ist, die radioaktiven Abfälle auf ein Minimum zu beschränken. So viel Material wie möglich soll dekontaminiert werden. Teilweise genügt wie bei den Splitterschutzsteinen einfaches Abwischen oder Abwaschen, andere Teile werden hochdruckgereinigt. Was nicht gereinigt werden kann, wird für die spätere Tiefenlagerung verpackt.

Im Maschinenhaus des AKW wurde Platz geschaffen, um dort das zurückgebaute Material vor dem Abtransport dekontaminieren und freimessen zu können.
© BKW

100 Tonnen hochradioaktiver Müll, aber noch kein Endlager

Die Bausubstanz des AKW beträgt insgesamt rund 200.000 Tonnen. Davon sind 2 Prozent (4.000 Tonnen) radioaktiver - und davon etwa 100 Tonnen hochradioaktiver - Abfall. Für gewisse geringfügig aktivierte Materialien sind Abklinglager für maximal 30 Jahre vorgesehen, damit sich die Radioaktivität ohne spezielle Behandlung so weit abbaut, dass die Materialien als normale Abfälle deponiert oder wiederverwertet werden können. Mit der Revision der Kernenergieverordnung ermöglichte die Schweizer Regierung solche Abklinglager außerhalb von Atomanlagen, doch bisher gibt es noch keines.

Das gilt auch für die Endlagerung radioaktiver Abfälle. Das Kernenergiegesetz schreibt zwar die dauernde und sichere Entsorgung der radioaktiven Abfälle in der Schweiz vor. Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe gründeten die Schweizer AKW-Betreiber und die Eidgenossenschaft, die für solche Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung zuständig ist, 1972 die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle. Diese hat zwar verschiedene geeignete Standorte gefunden, politisch ist aber noch nichts entschieden. Bis ein geologisches Tiefenlager gebaut ist, werden die radioaktiven Abfälle aus den Schweizer AKW in Würenlos gelagert. Die Kapazität dieses Zwischenlagers soll für sämtliche Abfälle aus dem Betrieb und der Stilllegung aller fünf Schweizer AKW ausreichen.

Der Transport der Brennelemente nach Würenlingen beginnt 2021. Zugleich wird das Maschinenhaus für die Reinigung der radioaktiv verunreinigten Materialien vorbereitet. Bis Ende 2024 sollen alle Brennelemente weggeschafft und damit mehr als 98 Prozent der Radioaktivität aus dem Kernkraftwerk entfernt sein. Danach werden bis Ende 2030 sämtliche verbliebenen Anlageteile, die mit Radioaktivität in Kontakt waren, demontiert und falls möglich dekontaminiert. Läuft alles rund und werden 2031 keine radiologischen Gefahrenquellen mehr festgestellt, geben die Behörden das Areal frei. Danach folgt der konventionelle Rückbau der nicht mehr benötigten Gebäude.

Ende des AKW kostet in Summe 3 Milliarden Franken

Die Kosten für die Stilllegung und den Rückbau der Kernanlagen sowie für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle tragen in der Schweiz die Verursacher. Dazu zählen auch die Kosten für die Entsorgung von Betriebsabfällen und abgebrannten Brennelementen, die nach der Außerbetriebnahme der AKW anfallen. Um sicherzustellen, dass das dafür nötige Geld verfügbar ist, zahlen die Betreiber seit 1985 jährliche Beiträge in den Stilllegungsfonds und seit 2002 in den Entsorgungsfonds (beide stehen unter staatlicher Aufsicht) ein.

Im Lagerbecken kühlen die Brennelemente aus dem Druckbehälter in den kommenden Jahren ab, ehe sie ins 130 Kilometer entfernte Zwischenlager Würenlos transportiert werden.
© BKW

Gemäß Kalkulation der BKW kosten Stilllegung, Rückbau und Entsorgung der radioaktiven Abfälle in Mühleberg insgesamt gut 3 Milliarden Franken, davon sind 800 Millionen bereits ausgegeben, unter anderem für die Planung der Stilllegung und die bisher angefallenen Entsorgungskosten. Für Rückbau, Nachbetrieb und Change-Management wurden 400 Millionen Franken zurückgestellt. Im Stilllegungs- und Entsorgungsfonds stehen für das AKW Mühleberg 1,3 Milliarden Franken zur Verfügung. 100 Millionen müssen noch einbezahlt werden. Da der große Teil der Entsorgungskosten erst anfällt, wenn der Bau eines geologischen Tiefenlagers beginnt - womit die BKW frühestens 2040 rechnet -, werden noch Zinserträge in der Größenordnung von 400 Millionen Franken erwartet.

Kein Engpass bei der Stromversorgung

Durch die Abschaltung des AKW Mühleberg, das mit einer Nettoleistung von 373 Megawatt zu den kleineren Schweizer Atommeilern gehörte, hat sich die Stromproduktion im Kanton Bern halbiert und ist bei der Muttergesellschaft BKW um ein Viertel gesunken. Dennoch war keine Versorgungslücke zu befürchten, zumal die Schweiz über Kraftwerkskapazitäten von gut 20.000 Megawatt verfügt, bei einem maximalen landesweiten Verbrauch von etwa 10.000 Megawatt.

Die BKW betrachtet die Stilllegung ihres Kernkraftwerks als Element des Wandels von einer Energiegesellschaft zu einem internationalen Energie- und Infrastrukturdienstleistungsunternehmen. Ausgehend von den Kompetenzen im Energiebereich bietet der Konzern nunmehr europaweit auch Netz-, Infrastruktur- und Gebäudetechnik an. So ist die Zahl der Mitarbeiter in den vergangenen Jahren rasch auf rund 10.000 gewachsen, wovon die klare Mehrheit im Dienstleistungsgeschäft tätig ist. Damit sieht sich die BKW für die Energie- und Infrastrukturzukunft erfolgreich aufgestellt. Davon zeugt schon das jüngste Rekordergebnis des Konzerns: Mit plus 7 Prozent Umsatz auf 2,87 Milliarden Franken verbesserte die BKW den Betriebsgewinn (Ebit) 2019 um 19 Prozent auf 433 Millionen Franken.