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Schwerblütige Majestät

Von Friedrich Weissensteiner

Wissen
Dieses Porträt von Kaiser Karl VI. wird dem Maler Martin van Maysens zugeschrieben.
© Rasmussen/ Wikimedia Commons

Vor 275 Jahren starb Kaiser Karl VI. Er bereitete durch seine Erbfolgeregelung die Regentschaft seiner Tochter Maria Theresia vor.


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Eine strahlende, imposante Persönlichkeit oder gar die Verkörperung des Barockzeitalters war Kaiser Karl VI., der Vater Maria Theresias, keineswegs. Mit König Ludwig XIV. von Frankreich, dem dynastischen Zentralgestirn der Zeit, konnte und brauchte er sich nicht zu messen. Denn dessen Leuchtkraft war bereits im Erlöschen, als Karl 1711 nach dem unerwarteten Tod seines Bruders, Josef I., die Herrschaft im Reichsverband und in den habsburgischen Landen übernahm.

Der Gesandte Savoyens am Wiener Hof beschreibt den Kaiser als hässlich und unscheinbar. Sein Gang sei unmajestätisch, seine Arme und Beine wirkten unproportioniert. Er richte in der Öffentlichkeit an niemanden das Wort und spreche bei Audienzen so undeutlich, dass ihn kaum jemand verstehe. Das war zweifellos ein einseitiges Urteil. Der Kaiser war schwerblütig, bedächtig, zurückhaltend, wenig entschlusskräftig und wurde mit zunehmendem Alter immer misstrauischer.

Aber er war sprachbegabt und liebte, wie sein Vater Leopold, die Musik über alles. Er komponierte Opern und dirigierte bei festlichen Anlässen die aus 86 Mitgliedern bestehende Hofkapelle. Der Kaiser war ein passionierter Jäger, aber keineswegs ein Jagdungeheuer, der alles niederschoss, was ihm vor die Flinte kam.

Kluge Amtsführung

Die persönliche Lebensführung Karls VI. entsprach durchaus nicht den Gepflogenheiten der Zeit. Er aß und trank maßvoll, seine Zimmer in der Hofburg waren verhältnismäßig nüchtern eingerichtet. Im Gegensatz zu anderen Barockfürsten war der Kaiser fleißig, klug und kenntnisreich. Er schrieb Instruktionen oft mit seiner eigenen, schwer lesbaren Handschrift, erledigte viel selbst und delegierte wenig.

Das ausgeprägte barocke Majestätsbewusstsein Karls VI. manifestiert sich in den prachtvollen Bauwerken, die noch heute an ihn erinnern. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang an die vor der damaligen Stadtmauer errichtete Karlskirche zu nennen, deren Bau 1716 nach dem Erlöschen der letzten großen Pestepidemie begonnen und 1739, ein Jahr vor dem Tod des Kaisers, beendet wurde. Die beiden mit Re-liefbändern geschmückten Säulen zu beiden Seiten der Fassadenfront demonstrieren in Anlehnung an die Trajanssäule in Rom die römische Kaiserwürde Karls.

Einen weiteren architektonischen Glanzpunkt der Zeit markiert der barocke Um- und Ausbau des Stiftes Klosterneuburg. Als Vorbild für dieses gigantische Bauvorhaben diente der Escorial Philipps II. von Spanien. Die bereits vorhandene Stiftskirche war als Mittelachse eines aus vier Höfen bestehenden Gebäudekomplexes gedacht, dessen Kuppeln mit den Kronen des Hauses Habsburg geschmückt werden sollten. Es wurde nur ein Hof gebaut. Die kaiserliche Klosterresidenz blieb ein Torso. Zur Verwirklichung des Riesenprojektes fehlte das Geld. Die Hofburg erweiterte der Kaiser mit dem Bau des Reichskanzleitraktes, der Winterreitschule und der Hofbibliothek, der heutigen Nationalbibliothek.

Karl VI. achtete wie sein Vater streng auf die Einhaltung der Regeln des spanischen Hofzeremoniells. In der Wiener Hofburg lief alles nach Protokoll ab. Die Etikette feierte Triumphe. Nichts war dem Zufall überlassen. Jeder Schritt, jede Geste, jede Bewegung musste wohlgesetzt sein. Der kleinste Fauxpas konnte Verstimmungen mit ungeahnten Folgen nach sich ziehen. Wer bei welchem Anlass und in welcher Situation wie, wann und wo den Vortritt hat, wer bei Festlichkeiten neben wem stehen und sitzen darf, welche Schritte man aufeinander zu macht, wie man knickst, all das war von ungeheurer Bedeutung. Der gesellschaftliche Rang bedeutete alles, Rangstreitigkeiten und Eifersüchteleien gehörten zum höfischen Ritual.

"Spanische Reverenz"

Am Wiener Hof musste dem Kaiser, der ganz in Schwarz mit roten Strümpfen und Schuhen und einem federgeschmückten Hut gekleidet war, natürlich die "Spanische Reverenz" erwiesen werden. Wer sich Seiner Majestät näherte, musste sich dreimal tief verbeugen und auf das Knie fallen. Nach der Audienz waren wieder drei Bücklinge zu absolvieren, diesmal allerdings im Rückwärtsgang. Dem Kaiser den Rücken zu zeigen, wäre eine protokollarische Todsünde gewesen. Bei Audienzen "nuschelte" der Kaiser und sprach so undeutlich, dass der Gesprächspartner oft nicht wusste, woran er war. Das gehörte zwar nicht zum spanischen Hofzeremoniell, aber mit dieser Eigenart legte der Herrscher einen Graben der Distanz zu den Höflingen, Bediensteten und Bittstellern.

Die Erbfolge

Das Thema, das Karl VI. während seiner gesamten Herrschaft beschäftigte, war die Frage der Nachkommenschaft. Der Kaiser war bereits etliche Jahre verheiratet, aber seine Ehe war noch immer kinderlos. Er sorgte sich (wie sich später herausstellen sollte, zurecht), ohne männliche Nachkommen zu bleiben. Die österreichische Linie des Hauses Habsburg könnte in diesem Fall wie die spanische, die im Jahr 1700 im Mannesstamm erlosch, in einen furchtbaren Erbfolgekrieg verwickelt werden. Befürchtete er.

Die bloße Vorstellung einer solchen Möglichkeit bereitete ihm schlaflose Nächte. Er musste das durch eine familienrechtliche Erbfolgeordnung verhindern. Also gab er den Auftrag, ein entsprechendes Dokument auszuarbeiten. Sobald die Hofkanzlei mit der Arbeit daran fertig war, rief Karl für den 19. April 1713 alle in Wien anwesenden Geheimen Räte in der Hofburg zu einem Staatsakt zusammen. Sie folgten selbstverständlich seinem Ruf. Der Kaiser empfing sie huldvoll und ließ eine Erklärung bekannt machen, die als "Pragmatische Sanktion" in die Geschichte eingegangen ist und fortan seine Innen- und Außenpolitik essenziell bestimmt hat. Das weitschweifige habsburgische Grundgesetz enthielt zwei wichtige Punkte. Punkt eins statuierte beim Fehlen eines männlichen Erben die "primogenitale" weibliche Erbfolge. Punkt zwei betraf die Einheit der habsburgischen Besitzungen. Sie sollten unteilbar und untrennbar ein "Totum", eine Gesamtheit darstellen.

Die dynastische Erbfolgeordnung Karls VI. war in seinen Erbländern ein Bestandteil des Staatsrechtes. Trotzdem konnte sie in manchen Kronländern nur gegen den heftigen Widerstand der Stände durchgesetzt werden. Die Anerkennung in seinem Staatsgebiet genügte Karl VI. jedoch nicht. Der Kaiser wollte dafür auch die Zustimmung der ausländischen Mächte gewinnen. Um sie zu bekommen, musste er schmerzliche wirtschaftliche Zugeständnisse machen und sogar einen Krieg führen. Bei seinem Tod im Jahr 1740 waren die meisten dieser Abmachungen diplomatischer Schall und Rauch. Maria Theresia, des Kaisers Erbtochter, bekam es bitter zu spüren. Prinz Eugen, sein verdienstvoller Feldherr und Diplomat, hatte ihn vergebens davor gewarnt. Besser als ein paar Urkunden seien eine gefüllte Staatskasse und eine schlagkräftige Armee, meinte er. Wie recht er doch gehabt hat!

Das Privatleben des Kaisers war von Harmonie und Zufriedenheit geprägt. Dar Kaiserhof erwählte für ihn eine Gemahlin aus deutschen Landen: Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel. Die Prinzessin galt als ausgesprochene Schönheit. Zeitgenössischen Berichten zufolge hatte sie blondes Haar, blaue Augen und besaß einen gesunden Menschenverstand. Der Bräutigam war begeistert, als er sie zum ersten Mal sah: "Königin sehr schön, gar content", notierte er in seinem Tagebuch, das sich stilistisch nicht eben durch barocken Überschwang auszeichnet. Und nach der Hochzeitsnacht stellte er lakonisch fest: "Königin Nacht gar lieb."

Als Karl 1711 zum römisch- deutschen Kaiser gewählt wurde, kehrte er aus Spanien, wo er sechs Jahre seines Lebens zugebracht hatte, in die Hofburg zurück. Zum Ärger der alteingesessenen Hofaristokratie nahm er eine Reihe von spanischen Ratgebern mit, die nun in Wien den Ton angaben. Elisabeth Christine blieb als seine Statthalterin in Spanien. Sie folgte ihrem Gemahl erst zwei Jahre später nach.

Unter Karls Gefolgsleuten befand sich auch Graf Michael Johann Althan oder Althann, mit dem ihn ein besonderes Vertrauensverhältnis verband. Der Graf war sein Intimus, auf dessen Rat der Kaiser hörte. Er bekleidete das Amt des Oberstallmeisters, hielt sich jedoch im Hintergrund und spann von dort aus seine In-trigen. In der Hofburg wohnte er in der unmittelbaren Nachbarschaft Seiner Majestät.

Als Althann im Alter von 43 Jahren starb, war des Kaisers Schmerz so groß, dass er zur Ader gelassen werden musste. In seinem Tagebuch notierte der wortkarge Habsburger: "16. März 1722, halb 7 auf, unter der letzten Mess, ganz gah, oh höchster Gott, um 8 mein einziges Herz, mein Trost, mein treuester Diener, mein Herzensfreund, der mich wie ich ihn 19 Jahr inniglich geliebt, in wahr Freundschaft gehabt, in diesen 19 Jahr nie uneinig gewes, mein Kammerherr, nachher Oberstallmeister, mein alles, mein liebster Michael Johann Althann gestorben in einer halb 4tel Stund, seind unser Herz zertrambt worden, der ewig in mein Herz und den ewig in sein Kinder und Frau, was ich ihm schuldig, so lang ich leb erkändlich sein werde. Gott sei mein Leid geklagt, da ich all Trost, alles vor mich verlohren, Gott in seiner Seel gnädig und tröst mich Amen."

Den Tod des Prinzen Eugen, der dem Haus Habsburg jahrzehntelang treu diente, kommentierte Karl VI. mit sachlicher Trockenheit: "Um halb 9 Uhr Nachricht, Prinz Eugen von Savoyen, der seit 83 in meines Haus Dienst getan, 1703 Kriegspräsident worden, mir seit 1711 in allem dient, im Bett gefunden worden nach langer Krankheit. Gott sei der Seele gnädig. In seinem 73. Jahr."

Bisexuelle Tendenz

Der Vergleich der beiden Passagen spricht sehr dafür, dass der Kaiser zum Grafen Althan(n) eine homoerotische Beziehung unterhielt. Noch eindeutiger ist des Kaisers Bisexualität durch eine weitere Tagebucheintragung belegt. Unter dem Datum des 17. Juni 1740 heißt es da: "Bueb erster Dienst, gut ich froh, lieb, herzen red, länger küsst, Lieb versichert". Um wen es sich bei diesem Partner handelte, bleibt offen. Seiner Ehe tat dies offenbar keinen Abbruch. Die Kaiserin gebar ihm einen Sohn, der kurz nach der Geburt starb, und drei Mädchen. Die erstgeborene Erzherzogin wurde auf den Namen Maria Theresia getauft.

Der Kaiser hatte auch einen trockenen Humor. Als er an seinem Sterbebett nur zwei Kerzen brennen sah, soll er rügend bemerkt haben: "Wie? Nur zwei Kerzen brennen? Als römischer Kaiser gebühren mir vier!"