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Schwerer zu spalten als Atome

Von Clemens M. Hutter

Reflexionen

Die vielerorts beliebten Suche nach Prügelknaben und Sündenböcken.


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"Blondinen sind dumm" - das empfindet jeder als lächerliches Pauschalurteil, ebenso wie "Der Büroschlaf ist der gesündeste". Beides lässt sich statistisch nicht beweisen. Welche Blondinen sind für die Blondinen und welche Büroschläfer für die Büroschläfer repräsentativ? Wie sortiert man sie nach Alter, Einkommen, Bildung, Grad der Müdigkeit oder Vorlieben, damit ein fairer Querschnitt herauskommt?

Zudem wäre der "Gegenbeweis" auch grotesk: Sind alle Nicht-Blondinen klug - und alle Nicht-Büroschläfer krank? Da wäre doch die Diskriminierung von Araberinnen oder Afrikanerinnen mit einem Schlag erledigt, weil sie nicht blond sind. . .

Falsche Pauschalierung

Daraus folgt, dass Pauschalurteile kindisch bis infam sind, weil sie vom Einzelnen auf Alles schließen. Ein krasses Beispiel dafür lieferte 1879 der deutsche Historiker Heinrich Treitschke: "Die Juden sind unser Unglück!" Sie gefährden nämlich "deutsches Leben", doch der "gesunde Instinkt" des Volkes habe das erkannt.

Treitschke unterlegte diesem Vorwurf einen Klassiker an Vorurteil: Er bewertete "die" Juden am positiven Selbstbild der Deutschen und manipulierte zudem die Statistik, damit der "gesunde Instinkt" des Volkes die Juden als existenzielle Bedrohung wahrnehme. Damals waren Juden nur in Berlin in den Medien, im kulturellen Schaffen und in den freien Berufen statistisch "überpräsent". Das Volk verstand aber "Überpräsenz" der Juden in ganz Deutschland - und die Antisemiten aller nationalistischen Schattierungen walzten diese "Statistik" agitatorisch aus.

So wie 1896 der glühende österreichische Antisemit Georg von Schönerer: "Emanzipierte Juden zeigen sich übermütiger, hartherziger, ausbeutungssüchtiger und schadenfroher als je. Überall sehen wir sie im Bunde mit Elementen des Umsturzes. Daher muss der Antisemitismus von jedem treuen Sohne seiner Nation als größter Fortschritt dieses Jahrhunderts angesehen werden." Hitler verschärfte den Antisemitismus mit jener "Animalisierung", die das Vorurteil in Richtung "Untermenschen" lenkte und den Rassen-Totalitarismus rechtfertigen sollte: Juden seien Parasiten im deutschen Volkskörper, die ausgemerzt gehörten. Deshalb stilisierte er sich als "Robert Koch der Politik", der diesen Bazillus entdeckt hat und ausrotten wird - wie sechs Millionen Opfern des Holocaust widerfahren.

Allerdings wucherte dieser Antisemitismus auf dem Mistbeet eines uralten Vorurteils: Juden seien die kollektiven Mörder Jesu, "Brunnenvergifter" und damit Urheber der Pest, Ritualmörder christlicher Kinder, blutsaugende Wucherer oder Verschwörer gegen die abendländische Kultur.

Umgangssprachlich bedeutet Vor-Urteil ganz simpel, dass jemand ein Urteil ohne ausreichende Sachkenntnis fällt. Selbst die Wissenschaft kommt ohne Vor-Urteil nicht aus, nämlich als "Zwischenstation" der Forschung. Der Grazer Theologe und Philosoph Johann Fischl erklärte diese "Zwischenstation" als Prüfung, ob ein Forschungsprojekt den Gesetzen der Logik standhält, an einem simplen Beispiel: Jemand baut einen Steg. Er rammt Pfeiler in den Boden, prüft ihre Stabilität, verbindet das Ufer mit Balken und Brettern mit den Pfeilern, prüft abermals, setzt die nächsten Pfeiler und so fort. So entsteht ein stabiler Steg. Also widerspräche es der Logik, einfach drauflos zu bauen.

"Vorurteil" bezeichnet aber auch eine vorgefasste Meinung, die abwertet oder diskriminiert und sich dabei negativer Stereotypen bedient. Sie entsteht durch mangelhafte Begründung, starre Verallgemeinerung und Ausklammern aller Fakten, die das Urteil erschüttern könnten. Daher sucht man zur Stütze des Vorurteils Fakten, die eine Meinung untermauern. Albert Einstein befand daher: "Ein Vorurteil ist schwerer zu spalten als ein Atom."

Negative Stereotypen

Jeder kennt emotionsgeladene Vorurteile: dreckiges Schwein, feiger Hund, dumme Gans, falsche Schlange. Da dienen sachlich unhaltbare "Negativeigenschaften" von Tieren als Punze für Menschen. Politisch aktiviert diese Animalisierung latenten Argwohn gegen Tiere. Stalin ließ "Parteifeinde" als "tollwütige Hunde" erschießen, Castro punzierte seine Gegner als "Würmer", die man zertreten werde, und Gaddafi nannte die Revolutionäre "Ratten", die hinterhältig aus dem Untergrund zubeißen.

Wie immun ein Vorurteil gegen überprüfbare Fakten sein kann, belegt die populäre Darstellung des Euro als "Teuro". Der offenkundige Vorteil des Euro für Österreich zählt nicht, wohl aber das "Preisgefühl" bei Waren, welche die Verbraucher häufig kaufen. Da stört doch nur die Analyse der Statistik Austria, dass die Preise in den zehn Euro-Jahren um 22 Prozent, in den letzten zehn Schilling-Jahren zuvor aber um knapp 25 Prozent gestiegen sind. Und auch in England oder Schweden lag die Teuerungsrate ohne Euro etwas höher.

Auch schreibt ein gängiges Vorurteil das griechische Drama den "faulen Griechen" zu. Da muss man eben eine OECD-Studie ignorieren, nach der die Durchschnittsgriechen jährlich 2119 Stunden arbeiten, die Durchschnittsösterreicher aber nur 1621. Dagegen wehrt sich das Vorurteil mit dem banalen Kalauer: "Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Außerdem sei die Arbeitsproduktivität der Griechen miserabel.

Den psychologischen Hintergrund des Vorurteils hat der Soziologe Theodor W. Adorno ausgeleuchtet: Autoritäre Persönlichkeiten mit starren Wertmaßstäben und geringer Bildung seien besonders anfällig für Vorurteile, denn sie stärken das Selbstwertgefühl. Dann wäre die Kapitulation vor harten Fakten eben ein "Gesichtsverlust" und eine schmerzliche Niederlage. Daran ändert auch der geläufige Rettungsversuch mit dem Sprichwort nichts, dass Ausnahmen die Regel bestätigen.

Kollektiver Selbstwert

Wie empfindlich das kollektive Selbstwertgefühl ist, zeigen harmlose Beispiele. Siegt das österreichische Fußballteam, so haben "wir" gewonnen, verliert es aber, so haben die Kicker "versagt". Gleiches gilt für die Wiener Burgenländerwitze, die Kärntner Steirerwitze, die Vorarlberger Tirolerwitze oder die deutschen Ösi-Witze.

Gefährlich ist hingegen das politisch angeheizte nationalistische Vorurteil, das den kollektiven Selbstwert festigen soll. Dann sind Nigerianer eben Drogenhändler, Ausländer "krimineller" als Österreicher, Asylanten "Sozialschmarotzer" und Musliminnen mit Kopftuch unberechenbare "Islamistinnen".

Neurologie und Hirnforschung weisen allerdings nach, dass Vorurteile keineswegs nur böser Absicht entspringen. Wir treffen nämlich nur rund zehn Prozent unserer Entscheidungen mit dem Verstand, den riesigen Rest aber "aus dem Bauch". Wäre es umgekehrt, dann hätte die Menschheit nicht überlebt. Käme uns unerwartet ein Geisterfahrer entgegen, bliebe keine Zeit für rationales Abwägen. Aber die Evolution stattete uns mit "Mechanismen" aus, die "automatisch" reagieren.

Die Sozialpsychologie sieht Personen oder Gruppen besonders für Vorurteile anfällig, die sich sozial oder wirtschaftlich von - echter oder vermeintlicher - Konkurrenz durch "begünstigte" Gruppen bedroht fühlen. Die wahrgenommene oder auch agitatorisch stilisierte "Besserstellung" einer Gruppe bedeutet dann die Schlechterstellung der eigenen Gruppe und ist somit eine Ungerechtigkeit.

Hinter den Erscheinungsformen des Vorurteils und der damit verbundenen Diskriminierung steckt auch der "Prügelknabe", dem man die Schuld an beliebigen Missständen aufbürdet. Prügelknaben müssen für Fehler herhalten, die eine Person oder eine Gesellschaft zwar selbst verschuldet hat, aber nicht eingestehen will, weil das "blamabel" wäre. Dann sind "schlechte Lehrer" für die schlechten Noten der Sprösslinge verantwortlich, Bürokraten für unangenehme Bescheide oder habgierige Manager für steigende Preise. Einen vermeintlich Schuldigen zu prügeln, verschafft somit Erleichterung und erspart das Eingeständnis, dass schlechte Schulnoten auch auf mangelnde Unterstützung durch das Elternhaus und unangenehme Bescheide einer Behörde auf die Gesetzeslage zurückzuführen sind, über die man sich nicht informiert hat.

Der Prügelknabe stammt aus dem Mittelalter, als adelige Knaben nicht mit gesellschaftlich entehrenden Schlägen bestraft werden durften - schon gar nicht von sozial tiefer stehenden Personen wie Gerichtsdienern oder Hausangestellten. Also musste ein Knabe "aus dem Volk" für den Übeltäter die Prügel erdulden - im Beisein des Jungaristokraten. Gelegentlich revanchierten sich die Edelknaben mit einem Geschenk für den "Prügelknaben". Dabei fällt auf, dass es keine "Prügelmädchen" gibt. Sie hatten nicht den Spielraum wie Buben und taugten eben nicht für "Lausbübereien", die begrifflich auch nur männlich sind.

Keine "Prügelmädchen"

Der Prügelknabe entwickelte sich aus dem "Sündenbock", den das alttestamentarisch Buch Leviticus beschreibt: Um einer Strafe Gottes für Fehlverhalten zu entgehen, laden die Israeliten ihre Sünden rituell auf einen Ziegenbock ab und treiben ihn in die Wüste. Dort mag er zugrunde gehen. Das Volk übt also nicht Buße, sondern lässt den schuldlosen Sündenbock büßen.

Dieses Ritual zur vermeintlichen Beschwichtigung Gottes erspart die selbstkritische Fehleranalyse und schiebt die Verantwortung für die Folgen des Fehlverhaltens auf andere ab. Der Sündenbock - als Person oder Gruppe - kann sich nicht dagegen wehren. Das enthebt die Gruppe der moralischen Aufgabe, die konkret Schuldigen an beliebigen Missständen zu ermitteln und zur Verantwortung zu ziehen. So entsteht das Gefühl "wir sind eh ok". Dieses "Alle-gegen-Einen-Ritual" sichert den Frieden in der Gruppe und der Sündenbock entpuppt sich als Büßer für ein Vorurteil. In dieses Schema passt auch das Mobbing.

Bleibt noch das "positive" Vorurteil. Die Werbung "Geiz ist geil" assoziiert beinahe jeder mit den Preisvorteilen eines Discounters und es gewann den Rang eines Markenzeichens. Eine ARD-Dokumentation wies allerdings jüngst nach, dass sich kaum jemand die Mühe macht, Preise diverser Diskonter und anderer Firmen zu vergleichen. Und es stellte sich heraus, dass das gleiche Produkt in anderen Geschäften billiger gewesen wäre. Das Grundmuster des positiven wie es negativen Vorurteils ist also gleich: Man bildet sich eine unzureichend abgesicherte Meinung und beharrt selbst dann darauf, wenn sie sich als Irrtum herausstellen sollte.

Clemens M. Hutter, geb. 1930, war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten"und ist Autor von rund 45 Büchern.