In Bolivien ist wieder Ruhe eingekehrt, seit am vergangenen Freitag der Zorn der Armen den unpopulären Präsidenten Gonzalo Sanchez de Lozada nach nur 14 Monaten aus dem Amt gefegt hatte. Die meisten Straßenblockaden sind aufgehoben, Hunderttausende Indiobauern und Minenarbeiter kehrten auf ihre Felder oder in ihre Slums zurück. Ob sie bald wieder zu einem neuen Protestmarsch nach La Paz aufbrechen, hängt davon ab, ob der nachgerückte Präsident Carlos Mesa ihre Forderungen - die da heißen Ende des neoliberalen Wirtschaftskurses und mehr Mitspracherecht für die indigene Bevölkerungsmehrheit - berücksichtigen wird.
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Mesa hat es versprochen, aber die wenigsten glauben ihm. Für sie verbirgt sich hinter dem langjährigen Du-Freund De Lozadas und Ex-Journalisten nur ein neues Gesicht der weißen Wirtschaftselite, die sich und den transnationalen Konzernen die Gewinne aus Boliviens üppigen Bodenschätzen sichern.
Carlos Mesa, der als Inhaber des bolivianischen Fernsehsenders "Red de Televisión PAT" zum Millionär avanciert und erst im letzten Jahr in die Politik gewechselt war, weiß um die heikle Mission, die er übernommen hat, und bat um einen Vertrauensvorschuss. Das Land sei nach den Unruhen mit über 80 Todesopfern "stark traumatisiert", jeder Fehler der neuen Regierung könne das Land "erneut in den Abgrund stürzen", warnte der 50-Jährige.
Gleich zu Amtsantritt hatte er am Sonntag versprochen, ein Referendum über die geplanten Gasexporte in die USA abzuhalten, an denen sich der jüngste Volkszorn entzündet hatte. Auch eine verfassungsgebende Versammlung und vorgezogene Neuwahlen (die Amtszeit des Präsidenten läuft regulär erst 2007 ab) zählen zu seinem Regierungs-Fahrplan. Ein weiteres Zugeständnis an die Opposition machte der parteilose Intellektuelle bei der Zusammenstellung seines 15-köpfigen Expertenkabinetts: Erstmals wird sich ein Ministerium um die Angelegenheiten der Ureinwohner und ein weiteres um Fragen der Volksbeteiligung an der Regierungspolitik kümmern. Das Schlüsselressort im Konflikt um die Gasexporte ließ Mesa vorerst unbesetzt, stattdessen schuf er eine Behörde zur Korruptionsbekämpfung. Ob diese Zugeständnisse ausreichen, die beiden mächtigen Oppositionsführer Evo Morales und Felipe Quizpe zufrieden zu stellen, ist zu bezweifeln. Quizpe, Chef des Gewerkschaftsdachverbands COB mit starkem Rückhalt bei den Minenarbeitern um die Hauptstadt La Paz, räumte dem Lozada-Nachfolger jüngst eine Bewährungsfrist von 90 Tagen ein, auf die Forderungen der indigenen Mehrheit einzugehen. Dazu gehören staatliche Subventionen für die Bauern statt riesiger Nahrungsmittelexporte aus den Industriestaaten und vor allem die Renationalisierung der Erdgasindustrie, an der bisher vor allem ausländische Energiekonzerne verdient haben. Die geplanten Exporte via Chile in die USA hatten nicht zuletzt deshalb einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, weil der Staat Bolivien nur zu 18 Prozent an den Gewinnen aus dem Exportgeschäft beteiligt worden wäre und die Regierung zuvor die Preise für Strom und Gas angehoben hatte. Den Löwananteil an dem 5-Mrd.-Projekt sollte das multinationale Firmenkonsortium NLG erhalten.
Auch der Vertreter der Koka-Bauern, Morales, dessen sozialistische Partei (MAS) bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr mit 21,4 Prozent zweitgrößte Kraft nach de Lozadas konservativen MNR wurde, will dem Newcomer Zeit geben, "um seine Versprechen umzusetzen". Er sei jederzeit zu einem Gespräch mit ihm bereit, die Jahrzehnte der leeren Versprechungen seien aber vorbei.
In Bolivien, dem ärmstes Land Lateinamerikas, hatte es in den vergangenen drei Jahren mehrmals Aufstände gegen den neoliberalen Kurs der Traditionsparteien gegeben, nachdem diese es bei abwechselnden Machtkonstellationen nicht geschafft hatten, die Kluft zwischen Reich und Arm zu verringern. Morales hatte bei der Mobilisierung der Bauern, der Avant-Garde der neuen sozialen Bewegung im Land, jeweils eine entscheidende Rolle gespielt. Etwa im Jahr 2000, als er einen Massenaufstand gegen die Liberalisierung der Wasserversorgung in Cochabamba organisierte. Die Regierung von Ex-Diktator Hugo Banzer musste den Vertrag mit dem US-Konzern Bechtel schließlich annullieren. Auch nach der Amtsübernahme durch den Milliarden schweren Minenbesitzer Sanchez de Lozadas entlud sich der Zorn der Massen, als die angekündigten Reformen neuen Deregulierungsmaßnahmen zum Opfer fielen und die Armen erneut leer ausgingen. Die erste größere Protestwelle war Anfang des Jahres über das Land geschwappt, als der 73-jährige Diplomatensohn, der in den USA aufwuchs und seinen "Gringo"-Akzent nie wieder ablegte, auf Druck des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank eine einheitliche Einkommenssteuer von 12,5 Prozent einführen wollte. 33 Menschen starben bei der Niederschlagung der Massenerhebung, der sich auch Tausende Polizisten und Studenten angeschlossen hatten. De Lozadas jüngster Erdgas-Coup hatte das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht.
Dass nun sein Nachfolger Mesa einen radikalen politischen Wandel herbeiführen wird, scheint Kennern des Landes sehr unwahrscheinlich. "Er ist im besten Fall eine Übergangslösung, aber niemand, von dem zu erwarten ist, dass er wirtschaftspolitisch aufräumt", erklärt der Leiter der Lateinamerika-Forschung des Ludwig-Boltzmann-Instituts, Leo Gabriel, gegenüber der "Wiener Zeitung". Mesa habe sich schon als Vize "nicht besonders hervorgetan".
Wie nötig es wäre, die über Jahrzehnte verschleppten Sozialreformen endlich anzupacken, zeigt ein Blick auf die Statistik: Danach leben 5,8 der 8,2 Millionen BolivianerInnen in Armut, drei Millionen müssen mit einem US-Dollar pro Tag auskommen. Das durchschnittliche Monatseinkommen eines Minenarbeiters liegt bei 14 US-Dollar, die Arbeitslosennrate offiziell bei rund 13 Prozent. Jedes zehnte Kind ist unterernährt. Wenn Mesa diesen Menschen keine Perspektiven gibt, ist ihr neuerlicher Marsch nach La Paz sicher.