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Seit 2015 übernimmt die Pflege medizinische Tätigkeiten und stöhnt unter der Mehrfachbelastung. Sie fühlt sich im Stich gelassen. Eine Anamnese.
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Wien. Gelegentlich bricht es aus den Frauen heraus. Sie entschuldigen sich sofort für ihre Kritik. Sie wollen keinen Clinch. Dass vor Fremden der Eindruck von einem "Wir" gegen ein "Die" entsteht. Denn eigentlich ist man doch ein Team, "wir" die Krankenschwestern und "sie" die Ärzte. Am Ende würde es doch allen nur um das Wohl der Patienten gehen.
Doch spätestens seit dem Wiener Ärztestreik im Herbst ist nichts mehr, wie es war. Es rumort an der Basis. Die Pflege hat genug. Zu oft hat sie in den vergangenen Jahren den Mund gehalten, wenn Gesetze novelliert wurden, wenn sich ihr Arbeitsaufwand erhöht hat und ihr Alltag längst nichts mehr mit dem zu tun hat, warum sie sich für diesen Beruf entschieden haben.
Seit knapp zwei Jahren hat sich das Tätigkeitsfeld der Krankenschwestern - der überwiegende Teil der Pflege ist nach wie vor weiblich - erheblich verändert. Der Hintergrund: das neue Ärzteausbildungsgesetz. Angehende Ärzte sollen sich nicht länger mit Hilfstätigkeiten - wie Blutabnehmen - aufhalten. Sie sollen sich auf das Wesentliche konzentrieren. Das Unwesentliche kann eine andere Berufsgruppe übernehmen: die Pflege. Schließlich ist sie dafür ausgebildet worden. Sie kann Blut abnehmen, EKGS schreiben, Harnkatheder und Infusionen legen. Bloß: Sie hat keine Routine darin, weil es der Dienstgeber bisher nie von ihr verlangt hatte.
Seit 1. Jänner 2015 ist das anders. Nun sollen sie diese Aufgaben übernehmen. Auffrischkurse hat ihnen dafür der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) - mit 11 Krankenhäusern der größte Dienstgeber für knapp 12.000 Pflegekräfte - angeboten.
Als Aufwertung wurde die neue Umverteilung verkauft. Endlich kann sich das diplomierte Pflegpersonal mit medizinischen Dingen beschäftigen. Für die bisherigen Aufgaben sollen andere Gruppen eingesetzt werden. Die Körperpflege der Patienten übernehmen die Pflegehelfer, das Essen teilen die Serviceassistenten aus und das Administrative managen die Stationssekretäre.
Auch der Wunsch nach einem Streik
Das war der Plan. Doch die Praxis sieht anders aus. Wie sehr die Vorstellung von der Realität abweicht, berichten sieben Krankenschwestern der "Wiener Zeitung". Sie sind zwischen 20 und 60 Jahre alt und arbeiten sowohl in öffentlichen als auch in privaten Spitälern. Aus Angst vor beruflichen Konsequenzen wollen sie anonym bleiben. Zu oft wurde ihnen in Rundmails und in Vier-Augen Gesprächen mit Vorgesetzten eingebläut, keine Interna weiterzuerzählen. Doch mittlerweile dominiert der Frust, die Angst. Sie haben genug von den Arbeitsbedingungen, die sie an ihre Grenzen treiben. Der Tenor: Sie sind überfordert. Von der versprochenen Entlastung ist keine Spur. Und angesichts des Ärztestreiks wurde ihnen einmal mehr der Stellenwert ihrer Berufsgruppe, der größten in den Wiener Gemeindespitälern, in der Krankenhaushierarchie bewusst: "Da ist der Gott in Weiß und irgendwo unten ist die Krankenschwester, die den Popsch abputzt."
Während monatelang von den Spitalsärzten die Rede war, über ihre potenziellen Gehaltseinbußen und verkürzte Arbeitszeiten gestritten wurde, ist die Pflege unbeachtet geblieben. Sie hat sich nicht zu Wort gemeldet. Nur einen Brief hat es seitens der Pflegedirektoren unmittelbar vor dem Ärztestreik gegeben, in dem sinngemäß die Forderungen der Ärzte nicht goutiert wurden.
Einige an der Basis hat das irritiert. "Wir wollten auch streiken", sagt eine Schwester, "aber es wurden uns verboten." Auch sie wollten aufzeigen, dass es für sie im Gesundheitssystem so nicht länger weitergeht. Sie hätten es satt, Menschen in Legebatterie-Manier abzufertigen. Vor allem, weil die Krankenschwestern auch diejenigen seien, welche die Patienten den gesamten Krankenhausaufenthalt über begleiten. Von der Aufnahme bis zur Entlassung. Von früh morgens bis spät in die Nacht. Sie wissen, wer welches Essen verträgt, warum der Patient die Nacht nicht durchgeschlafen hat und wann welche Wunde wieder zu bluten begonnen hat. Denn sie sind permanent anwesend und für die Patienten der erste Ansprechpartner.
Der Arzt sieht den Patienten nur zur Visite. Und durch die Umverteilung einiger Aufgaben an die Pflege hat sich sein Kontakt weiter verringert. "Die Ärzte kennen die Patienten gar nicht. Die schauen dann nur in die Akte, bestimmen die Therapie und ordnen an, was wir tun sollen", sagt eine junge Schwester.
Seit der "mitverantwortliche Tätigkeitsbereich" auf den regulären Stationen ausgeweitet wurde, sind viele Krankenschwestern verunsichert. "Wir haben alle Angst, dass was passiert, und deswegen sichern wir uns die ganze Zeit ab. Das heißt, dass wir dem Arzt ständig hinterherrennen und ihn die ganze Zeit fragen", so eine andere junge Schwester.
Lediglich 140 Stationssekretäre zusätzlich
Gründe für die Verunsicherung gibt es viele. Einerseits die fehlende Routine. Andererseits die fehlende Zeit und Ressourcen, um diese Routine zu erlangen. Denn anders als vorgesehen, wurden die befragten Schwestern auf ihren Abteilungen nicht entlastet. Das heißt: Sie erfüllen ihr herkömmliches Pensum zusätzlich zu den neuen Aufgaben. "Wenn einer ausfällt, müssen wir alle Löcher stopfen. Da gebe ich als diplomierte Schwester das Essen aus und mache das Bett sauber. Ich kann den Patienten ja schlecht verhungern lassen oder auf den Boden legen", erklärt eine Schwester.
In manchen Fällen sind die Krankenschwestern gar in rechtlichen Grauzonen, wie sie selbst behaupten. Dann wenn Not an der Frau ist und sie die Pflegehelfer beispielsweise bitten müssen, Infusionen abzuhängen - eine Tätigkeit, welche die Helfer offiziell nicht machen dürften. "Es bleibt uns nichts anderes übrig, wenn nicht genug Leute da sind", rechtfertigt sich eine Schwester.
Personell hat der KAV lediglich administrativ aufgestockt. So wurden seit der Umstellung 140 Stationssekretärinnen eingestellt. Doch sind auch sie für einige Abteilungen mehr Belastung als Hilfe - dann wenn sie über kein medizinisches Fachwissen verfügen und die diplomierte Krankenschwester ihr erst recht wieder über die Schulter schauen muss, ob sie alles auch richtig einträgt und dokumentiert. Im KAV begleitet man den Adaptionsprozess und will bald evaluieren, was auf welchen Stationen, Abteilungen und Krankenhäusern funktioniert und was nicht, heißt es aus der Presseabteilung. Flächendeckende Ergebnisse gibt es noch nicht.
In der Theorie dürfte nur in jenen Abteilungen die angeforderten Aufgaben von der Pflege übernommen werden, welche auch die ausreichenden Ressourcen zur Verfügung gestellt haben. Haben sie das nicht, darf die Pflege aufschreien und sich wehren. In der Regel passiert das nicht. "Wir sind eine unterwürfige Berufsgruppe. Wir wollen, aber wir können uns nicht wehren, weil wir keine Courage und keine Lobby haben", sagt eine Schwester. Ihre Vorgesetzten wissen von der Belastung. Doch haben sie kein Interesse an einem Aufschrei. Die Pflege muss ihren Sold zu 100 Prozent erfüllen. Denn nur wenn die Aufgaben vollständig wie vorgesehen übernommen wurden, darf die Abteilung weitere Ausbildungsplätze für angehende Ärzte anfordern. Tut sie das nicht, werden ihr die Plätze nicht bewilligt. Damit liegt die Verantwortung für den gesamten Betrieb auf den Schultern der Pflege.
Und das wirkt sich zunehmend auf das Arbeitsklima aus. Die Solidarität zwischen den einzelnen Berufsgruppen wird immer poröser. Jeder ist sich selbst am nächsten. So kommt es vor, dass sich ein Arzt, der bis vor einigen Monaten noch Blut abgenommen hat, sich weigert, das nun zu tun. Schließlich hat ihn das Gesetz davon offiziell entlastet. Und er bleibt dabei, seine Zeit im Sozialraum zu verbringen, anstatt der Pflege zur Hand zu gehen, auch wenn sie um Hilfe bittet. Aus Prinzip. Auch die Schwestern beginnen sich zunehmend an die neuen Prinzipien zu halten. Dann, wenn die Serviceassistentin krank ist und sie das Geschirr im Zimmer des Patienten nicht wegräumen.
Die Pflege kennt keine Repressalien
Genau dazu animiert die Gewerkschaft. Zum Stehenlassen. Sich selbst zu entlasten. So sieht das neue Empowerment aus. "Ich sage es in vielen Teambesprechungen: Wir müssen lernen zu sagen: Nein, dann räume ich das Geschirr nicht weg, dafür habe ich die Zeitressource nicht", erklärt Roul Maszar, stellvertretender Vorsitzender der Hauptgruppe II der younion, der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten.
Für die Gewerkschaft gilt: wo keine Ressource, da auch keine neue Arbeitsleistung. Wer es dennoch tut, ist selbst schuld. Wer sich nicht wehrt, ebenso. Dass das in hierarchischen Strukturen mit dem Druck von oben nicht immer so einfach ist, lässt Maszars Kollege Edgar Martin, ebenfalls stellvertretender Gewerkschaftsvorsitzender, nicht gelten: "Es ist auch Teil meines Berufsbildes, Missstände zu benennen und klarzustellen, wenn mir etwas auffällt. Ich kann nicht nur im Hinterzimmer beim Kaffee zusammensitzen und behaupten, dass alles schlimm ist - und sobald wir als Gewerkschaft sie auffordern, doch Farbe zu bekennen und was zu tun, nur gekontert wird: So schlimm ist es eigentlich eh nicht", kritisiert er. "Es heißt immer, die Pflege fürchtet sich vor Repressalien. Dabei kennt die Pflege gar keine Repressalien. Wie soll der Dienstgeber 12.000 Pflegekräfte mit einem Schlag ersetzen?"
Doch man weiß um den Unmut an der Basis. Die Gewerkschafter führen das auf den Tunnelblick zurück. Jeder sehe nur seine eigene Berufsgruppe, seine Station, seine Abteilung. Jedes Mal, wenn für eine Gruppe ein Erfolg verhandelt wurde, beginnt es ihr eine andere zu neiden, beobachten die Gewerkschafter. Das große Ganze wird außer Acht gelassen. Maszar und Martin vertreten die Interessen von 30.000 Mitarbeitern im KAV. Die Pflege macht mit 12.000 die größte Berufsgruppe aus. Trotzdem bleibt sie im großen Krankenhauskosmos nur ein Zahnrad von vielen, das ins nächste greifen muss. Passiert das gut geschmiert, umso besser. Wenn nicht, quietscht es eben gelegentlich. So wie jetzt.
"Ohne uns funktioniert gar nichts. Es kracht alles"
Um das abzufedern, hat die Gewerkschaft gemeinsam mit dem KAV im Sommer ein Paket von 30 Millionen Euro für die Mitarbeiter des Pflegebereichs ausverhandelt. Für die Pflege bedeutet das seit 1. Dezember: 100 Euro brutto zusätzlich im Monat auf ihr Konto. "100 Euro? Ist das ihr Ernst? Das ist doch eine Verarschung", sagt eine Schwester. Für sie ist es einmal mehr ein Beweis für ihre schwache Lobby. Während die Ärztekammer für die Spitalsärzte 30 Prozent Gehaltserhöhung bei weniger Arbeitszeit - aufgrund des neuen Arbeitszeitgesetzes - ausverhandeln konnte, bekommt die Pflege für ihre Zusatzarbeit 100 Euro brutto im Monat. Das ist eine simple Rechnung, die in den Schwesternzimmern hängen bleibt - unabhängig etwaiger Details.
Doch geht es den befragten Krankenschwestern nicht um das Geld. Es gehe ihnen um die Entlastung. Und darum, genügend Zeit für die Patienten zu haben und den Beruf, den man einmal als Berufung begriffen hat, auch so ausüben zu können - und nicht mit ein paar "Almosen" ruhiggestellt zu werden.
Derzeit ist die Gewerkschaft noch in Verhandlungen mit dem Dienstgeber. Man will mehr Ressourcen und bessere Rahmenbedingungen für die Pflege herausschlagen. Doch sind diese von der derzeitigen Debatte um eine etwaige Ausgliederung des KAV aus der Stadt-Wien-Familie überschattet. Wer nicht weiß, ob sein Verhandlungspartner in einigen Monaten noch derselbe ist, kann schlecht die schweren Geschütze auffahren, geben die Gewerkschafter Maszar und Martin zu bedenken.
Ein Streik in dieser Situation würde nur ein Verpulvern von Ressourcen bedeuten, ebenso sei es nur das letzte Mittel im Verhandlungsarsenal. So weit sei man noch lange nicht, meinen die beiden. An der Basis ist man der Idee nicht abgeneigt. Im Gegenteil. "Wenn die Ärzte auf die Straße gehen, funktioniert alles, weil wir ja die Stellung halten. Ohne uns funktioniert aber nichts. Es kracht alles", prognostiziert eine Schwester.
Auch in der Gewerkschaft ist man sich des Potenzials eines Streiks bewusst. 12.000 wütende Pflegekräfte. Das kann einen Arbeitgeber schon einschüchtern. In der Theorie wurde die Option durchgespielt. Nicht umsonst hat man immer wieder Kollegen aus Deutschland eingeladen, um sich ein bisschen Streik-Know-how zu holen. Bis dato hat man noch nie davon Gebrauch gemacht. Noch sah man keinen Grund, den schlafenden Riesen zu wecken. Noch nicht.