Die britische Premierministerin ist seitens der EU, der britischen Wirtschaft und der Brexit-Hardliner unter Druck.
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London. In einem verzweifelten Versuch, die tiefe Kluft zwischen Pro- und Anti-Europäern in ihrer Regierung zu überbrücken, hat Großbritanniens Premierministerin Theresa May gestern Kabinettsmitgliedern beider Lager klare Zustimmung zu einer gemeinsamen Position für die Post-Brexit-Ära abverlangt.
Auf einer ganztägigen Klausur im Regierungs-Landsitz Chequers in der Grafschaft Buckinghamshire, forderte May von ihren Ministern einen entscheidenden Schritt nach vorn in Sachen Brexit. Das Kabinett habe "die Pflicht", endlich einen Plan für das künftige Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU vorzulegen, schärfte sie ihren Kabinettsmitgliedern am Freitag ein.
Die EU hat seit langem einen solchen Plan verlangt und jüngst wieder darauf verwiesen, dass "nicht mehr viel Zeit" bleibe vor dem EU-Austritt der Briten im März kommenden Jahres. Unversöhnliche Gegensätze in Mays Kabinett wie in der Fraktion der Konservativen haben aber bislang eine solche Positionsbestimmung in London verhindert.
Die britische Regierung strebt nach dem Brexit eine "Freihandelszone" mit der EU an. Auf diese "gemeinsame Position" einigte sich das Kabinett, wie Premierministerin Theresa May am Freitag Abend bekannt gab. Mit der Sitzung hatte die Regierung ihren heftigen internen Streit über die künftige Ausgestaltung der Handelsbeziehungen mit Europa beilegen wollen.
Die Austrittsverhandlungen mit Brüssel stocken seit Monaten, weil auf britischer Seite nichts abgeklärt ist. Die gestrige Klausur auf Chequers ist darum von den meisten Beobachtern der britischen Szene als lang überfälliger "Showdown" eingestuft worden. Bei ihrer Ankunft mussten alle Minister ihre Mobiltelefone an der Tür abgeben, bevor sie eingelassen wurden. May signalisierte vorab, sie werde das Kabinett notfalls bis in den Samstag hinein am Tagungsort festhalten.
Wie bitter die Gegensätze sind, machten am Vorabend der Chequers-Zusammenkunft die Brexit-Hardliner des Kabinetts deutlich. Sieben Minister und Ministerinnen, die auf vollständiger Abkoppelung von der EU bestehen, verschworen sich bei einem Treffen im Außenministerium zum Widerstand gegen jeglichen "Quasi-Verbleib" ihres Landes in der EU. Zu den Teilnehmern gehörten Außenminister Boris Johnson, Brexit-Minister David Davis, Außenhandelsminister Liam Fox und Landwirtschaftsminister Michael Gove - vier der ursprünglichen Brexit-Wortführer der Konservativen. Aufgeschreckt hatte diese "Rebellen" von der Tory-Rechten am selben Tag die Nachricht, May plane, nach dem Austritt aus der EU an "gemeinsamen Regeln" mit der Union festzuhalten, um weiteren freien Güterverkehr vom und zum Kontinent und innerhalb Irlands zu ermöglichen.
Die Premierministerin hatte außerdem ein neues, kompliziertes Zoll- und Tarifsystem ausgetüftelt, bei dem London Import-Ware auf dem Weg zur EU nach EU-Art verzollen würde, Ware, die in Großbritannien verbliebe, aber nach eigenem Tarif. Solche Ideen brachten schon vor dem Chequers-Treffen viele Brexiteers in Rage. Von Brexit-Minister Davis hieß es, er halte den Plan Mays schlicht für "undurchführbar". Jacob Rees-Mogg, der Anführer der Brexit-Hardliner im Parlament, erklärte: "Wenn das stimmt, hat es mit Brexit nichts mehr zu tun." Gemeinsame Regeln mit der EU zu akzeptieren, würde bedeuten, "dass wir im Grund ein Vasallenstaat sind". Viele andere Tory-Abgeordnete meldeten sich ebenso empört zu Wort. Sie warfen May vor, gegen ihre eigenen "roten Linien" und gegen ihre häufig beschworenen Brexit-Prinzipien zu verstoßen.
Bisher hatte May gelobt, aus Zollunion und Binnenmarkt der EU "hundertprozentig" auszusteigen, London das Recht zum Abschluss eigener Handelsverträge mit anderen Staaten zu verschaffen, keine Personenfreizügigkeit zwischen Großbritannien und dem Kontinent mehr zu dulden und dem Europäischen Gerichtshof im Vereinigten Königreich alle Befugnisse abzusprechen.
"Keinen blassen Schimmer"
Nunmehr befürchten die Brexit-Hardliner, dass May der EU in sämtlichen Punkten nachgeben könnte. Zu Kompromissen mit Brüssel gedrängt sieht sich die Regierungschefin nicht nur von pro-europäischen Kabinettsmitgliedern wie Finanzminister Philip Hammond und Wirtschaftsminister Greg Clark, sondern auch von immer mehr Wirtschafts-Repräsentanten, die befürchten, dass der reibungslose Grenzverkehr jäh enden wird. Airbus-Generaldirektor Tom Enders sagte am Freitag, Mays Regierung habe "keinen blassen Schimmer", wie sie den Brexit "ohne schweren Schaden" für die Wirtschaft umsetzen solle.