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Die Souveränität gehört vorbehaltlos der Nation - dieser Leitspruch von Mustafa Kemal Atatürk prangt an der Stirnwand des türkischen Parlamentes in Ankara. Er ist stolzer Ausdruck des Selbstbewusstseins einer Republik, die das Osmanische Reich und den Sultan ablöste. Der Spruch ist aber auch ein Zeichen dafür, dass sich die moderne Türkei 80 Jahre nach ihrer Gründung am 29. Oktober 1923 weiter verändern muss, wenn sie ihr großes Ziel, die Zugehörigkeit zu Europa, erreichen will: Für EU-Nationen ist es mit der "vorbehaltlosen" Souveränität schließlich vorbei. Nach acht Jahrzehnten steht die türkische Republik vor den größten Herausforderungen seit ihrer Gründung.
Viele Probleme sind ungelöst
In vielen Bereichen hat sie die Frage nach ihrer Reformfähigkeit längst beantwortet. Atatürk gab dem neuen Staat den Weg nach Westen vor. Er verbot den osmanischen Fez und empfahl den Hut, führte das lateinische Alphabet und westliche Rechtssysteme ein. Die Türken erfanden sich in den Anfangsjahren der Republik sozusagen ganz neu. Ihr freier Tag in der Woche war plötzlich nicht mehr der Freitag, wie in anderen moslemischen Ländern üblich, sondern der Sonntag, wie im Westen. Sogar Familiennamen legten sie sich zu.
Doch nicht in allen Bereichen konnte die Republik ihre Altlasten so radikal über Bord werfen. So ist das Erbe des Obrigkeitsstaates bis heute nicht restlos abgeschüttelt. Längst gibt es zum Beispiel alle notwendigen Gesetze gegen die Folter; doch die Umsetzung scheitert, nicht zuletzt, weil die Justiz häufig das Wohl des Staates über das des Einzelnen stellt.
Auch die Bekämpfung der Armut kommt in dem 70 Millionen Einwohner starken Land nur schleppend voran. Einer neuen Studie zufolge haben zehn Millionen Türken nur etwa 85 Cent pro Tag für den Kauf von Lebensmittel zur Verfügung. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von derzeit etwa 2.900 Euro im Jahr ist die Türkei das mit Abstand ärmste EU-Berwerberland.
Ihre größten innenpolitischen Konflikte hat die Türkei in 80 Jahren Republik ebenfalls noch nicht völlig lösen können. Viele Kurden fordern nach wie vor mehr kulturelle Rechte innerhalb des türkischen Staatsverbandes. Im Rahmen der jüngsten Reformen wurde ihnen zwar beispielsweise erlaubt, die eigene Sprache zu lernen, doch der türkische Staat sieht nach wie vor das Schreckgespenst des Separatismus hinter solchen aus europäischer Sicht eher harmlosen Forderungen. Deshalb werden den Kurden alle möglichen Steine in den Weg gelegt. Der Beginn kurdischer Sprachkurse im Südosten der Türkei scheiterte vor kurzem daran, dass die Türen der Unterrichtsräume nach Meinung der Behörden fünf Zentimeter zu eng waren.
Mindestens ebenso explosiv wie der Kurdenkonflikt ist eine andere innenpolitische Streitfrage, mit der sich schon Atatürk herumschlug: die nach dem Verhältnis zwischen Staat und Religion. Für Atatürk war der Islam eine rückwärtsgerichtete Kraft, die den Fortschritt des Landes hemmte - deshalb heißt die offizielle Bezeichnung für den islamischen Fundamentalismus in der Türkei "irtica" - Reaktion. Atatürk wollte die Religion aus der Politik heraushalten. Das Ergebnis ist der Versuch des Staates, die Religion zu kontrollieren: Das staatliche Religionsamt in Ankara bezahlt die Imame in allen 70.000 Moscheen und schreibt ihre Predigten.
Immer wieder Spannungen
Die Furcht, religiöse Kräfte könnten dennoch versuchen, den säkulären Staat zu stürzen, führt immer wieder zu Spannungen - vor allem seit vergangenem November, als die aus dem islamistischen Lager stammende AK-Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Parlamentwahlen gewann. Besonders das Kopftuch-Verbot in öffentlichen Institutionen löst immer neuen Streit aus, wie auch zurzeit wieder: Zum Staatsempfang am Republikstag lud Präsident Ahmet Necdet Sezer nur Politiker-Ehefrauen ein, die kein Kopftuch tragen - die anderen müssen draußen bleiben. Selbst an ihrem 80. Jahrestag hat die türkische Republik keine Ruhe vor ihren ungelösten Problemen.