Im Schatten russischer Angriffe begeht die Ukraine den Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion.
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Ausgangssperren statt Feierlichkeiten: Wenn die Ukraine am morgigen Mittwoch den 31. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion begeht, wird der Krieg Russlands gegen die ehemalige Sowjetrepublik genau sechs Monate dauern. Fast jeder dritte der rund 44 Millionen Ukrainer wurde im vergangenen halben Jahr vertrieben, zehntausende Menschen wurden getötet, Städte sind zerbombt, die Infrastruktur des Landes ist teils zerstört.
Für die angegriffenen Ukrainer wird das Motto in diesem Jahr daher sein, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen und nicht diese mit Paraden zu begehen. Große Feierlichkeiten wurden verboten, schon geltende Ausgangssperren verlängert. Das Verbot für öffentliche Großveranstaltungen, Kundgebungen und andere Zusammenkünfte gelte bis Donnerstag, teilten die Behörden in Kiew am Montag mit.
Im Hintergrund steht unter anderem die Sorge vor russischen Raketenangriffen. Am Wochenende warnte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass Russland zum Unabhängigkeitstag des Nachbarlandes "etwas besonders Bösartiges" tun könnte.
Und noch eine Mahnung hatte Selenskyj parat: Sollte der Kreml anlässlich des Unabhängigkeitstages ukrainische Soldaten vor Gericht stellen, werde das eine Grenze sein, "ab der keine Verhandlungen mehr möglich sind". Der Staatschef berief sich dabei auf Medienberichte, wonach Moskau Schauprozesse gegen Kämpfer vorbereite, die während der Belagerung Mariupols gefangen genommen wurden.
Unterdessen gingen die Gefechte im Osten der Ukraine weiter - und auch rund um das von russischen Truppen besetzte AKW Saporischschja wurden Angriffe gemeldet. Die Ukraine warf Russland erneut vor, für den Beschuss verantwortlich zu sein. Moskau weist dies von sich und den Vorwurf an Kiew zurück.
Krieg erfasst Russland
Gleichzeitig kommt der Krieg immer näher an die russische Zivilbevölkerung heran - nicht nur auf der Krim, sondern auch in der unmittelbaren Umgebung Moskaus. Die Explosion einer Autobombe, die die Tochter des russischen Ideologen Alexander Dugin, Darja Dugina, tötete, ruft den Hauptstädtern das Blutvergießen im Nachbarland schmerzhaft ins Bewusstsein. Ziel des Anschlags war offenbar Dugin selbst, der das Denken des russischen Präsidenten Wladimir Putin zumindest beträchtlich beeinflusst hat.
Der Anschlag war nicht der erste derartige Vorfall; schon im April soll der wegen seiner Kriegshetze mit Sanktionen belegte Fernsehpropagandist Wladimir Solowjow knapp einem Attentat entgangen sein. Urheber sei die Ukraine, die mit westlicher Hilfe vorgehe, ist man in Russland sicher. "Uns sind die Kuratoren der westlichen Geheimdienste namentlich bekannt, eine CIA-Gruppe in erster Linie, die mit den Sicherheitsorganen der Ukraine zusammenarbeitet und augenscheinlich solche Ratschläge gibt", wetterte Kreml-Chef Putin. Andere machen russische Partisanen für die Tat verantwortlich und beschuldigen eine "Nationale Republikanische Armee". Ob es diese Gruppierung wirklich gibt, bleibt dahingestellt.
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Beobachter meinen jedenfalls, dass die Schockwelle der Autobombe auch die bequeme Welt der Propagandisten, die sich bisher in Sicherheit wähnten, erschüttert hat: Dass eine in der Öffentlichkeit stehende Befürworterin des Kriegs gegen die Ukraine nun auf russischem Gebiet in der Nähe von Moskau demonstrativ getötet wird, gilt als beispiellos.
Wobei Russlands Inlandsgeheimdienst FSB fast täglich von Festnahmen mutmaßlicher Terroristen berichtet, die im ukrainischen Auftrag Anschläge geplant haben sollen. Immer wieder veröffentlichten die Agenten dazu auch nicht überprüfbare Fotos und Videos von selbst gebauten Sprengsätzen und Geständnissen der Verdächtigen.
Aus der Ukraine gab es zwar Drohungen, dass Partisanen Russland mit Anschlägen auf Jahre Probleme machen könnten. Hunderttausende Ukrainer aus dem Kriegsgebiet leben - oft ohne Alternative - inzwischen in Russland. Der Verdacht, dass über die Fluchtwege auch "Saboteure", wie Moskau sie nennt, einreisen, ist allgegenwärtig. Erst in der vergangenen Woche nahm der FSB einer Mitteilung zufolge nach der massiven Explosion auf der Krim mehrere "Saboteure" fest. Doch bestätigt sind die Angriffe von ukrainischer Seite nicht.
Wobei die Attacken mittlerweile eine erhebliche Dimension angenommen haben: Immer wieder muss Russland den Beschuss seiner Grenzregionen Kursk, Belgorod und Brjansk - angeblich von ukrainischer Seite aus - hinnehmen, Moskau droht mit Gegenschlägen. Die sind aber keineswegs mit der Wucht erfolgt, die man annehmen könnte.
Vor allem nach den jüngsten Explosionen auf der Krim wundern sich politische Beobachter, dass der Kreml nicht schärfer reagiert. Immerhin hat die Ukraine mittlerweile offenbar die Möglichkeit, die 2014 annektierte Halbinsel auch mit Raketen zu erreichen und militärische Infrastruktur und Gerät in großem Umfang zu zerstören.
Russland muss erhebliche Verluste an Soldaten und Kriegsgerät verkraften, wirkt militärisch zumindest angeschlagen. Dass die westlichen Wirtschaftssanktionen schrittweise ihre Wirkung entfalten und Russland auf direktem Weg in eine Rezession ist, tut sein Übriges. (czar/schmoe)