Zum Hauptinhalt springen

Sechzehn Meter Habermas

Von Wolfgang Machreich

Reflexionen
Archivar Matthias Jehn vor einem kleinen Teil der Habermas-Bestände.
© Machreich

Die Universitätsbibliothek in Frankfurt bewahrt den üppigen "Vorlass" des weltberühmten deutschen Philosophen. Ein Lokalaugenschein.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wer zum "Vorlass" des wichtigsten Impulsgebers der Frankfurter Schule im Gefolge von Adorno und Horkheimer will, muss den Kopf einziehen. Das Habermas-Archiv in der Universitätsbibliothek Frankfurt ist so, wie sein Archivar Matthias Jehn "den berühmtesten Philosophen der Gegenwart" ("Die Zeit") beschreibt: "bescheiden". Schaut Jürgen Habermas bei seinen gesammelten Werken vorbei, dann "kommt er durch die Hintertür", sagt Jehn. Wer es ihm nachmachen will, muss mit dem Leiter des Archivzentrums in den Keller des in die Jahre gekommenen 1960er-Baus an der Bockenheimer Warte hinunter steigen.

2010 überließ Habermas 16 Regalmeter Manuskripte, Notizen und Briefe der Bibliothek in Frankfurt, wo er mit Unterbrechungen von 1964 bis 1994 an der Goethe-Universität lehrte. Auch Hamburg und München mit ihren Hochschulen wären erpicht da- rauf gewesen, das Werk des Philosophen für die Nachwelt zu verwahren, sagt Jehn. Dass sich Habermas für Frankfurt entschied, "wird hier natürlich hoch wertgeschätzt".

"Kopf einziehen"

Drei Schlüssel braucht Jehn, um Habermas aufzusperren, Alarmanlagen sichern die Bestände. Wenn schon nicht nobel, dann ist der "Vorlass" des Philosophen zumindest sicher verwahrt. Muss man Habermas bewachen? Ja, der Chef-Archivar erinnert daran, dass der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik in seinem der Bluttat vorausgegangenen Pamphlet die Soziologie allgemein und die Frankfurter Schule und ihre Kritische Theorie im Speziellen "als Feinde" titulierte.

Aufpassen müssen auch die Habermas-Besucher im Bibliothekskeller: "Kopf einziehen", mahnt Jehn, nicht wegen dem durchaus angebrachten Respekt vor dem Lebenswerk des Philosophen, sondern wegen den von der Decke hängenden Heizungsrohren. Darf man den Kopf wieder heben, steht man vor 16 Metern Habermas: graue Schachteln und gelbe Ordner, prall gefüllt mit dem Denken eines der weltweit meistrezipierten Philosophen und Soziologen der Gegenwart, voller wissenschaftlicher Arbeiten und journalistischer Artikel sowie der Korrespondenz des politischen Intellektuellen.

Matthias Jehn zieht eine Schachtel aus dem Regal, bis oben hin gefüllt mit Schnellheftern voller Korrespondenz. Zuoberst ein mit Schreibmaschine getippter Brief von Habermas an einen Philosophen-Kollegen an der University of Kansas, datiert mit 17. Dezember 1990, Aktenzahl 2866 JH/hn. "Bei Habermas gibt es eine enorme Tiefe der Erschließung und der Ordnung", erklärt Jehn und lobt die Systematik, Genauigkeit und Vollständigkeit der dahinter liegenden Büroarbeit.

Von seinem wissenschaftlichen Hintergrund her ist Matthias Jehn Historiker. Er promovierte über Juristen im Bologna des 12. und 13. Jahrhunderts, "die mit Hilfe des Rechts die Politik beeinflussten und veränderten". Eine Parallele zu seiner jetzigen Tätigkeit als Habermas-Archivar. Auch Habermas versteht sich als "Cito-yen", als Staatsbürger, der sich, der Tradition und dem Geist der Aufklärung verpflichtet, aktiv in die Debatte um das Gemeinwesen einbringt und mit seiner Philosophie die Politik prägt. Zurecht nannte der "Deutschlandfunk" in seinem Beitrag zum 90. Geburtstag des Philosophen im Juni dieses Jahres Habermas deswegen den "Oberaufseher des öffentlichen Diskurses".

Jehn hatte bei der Übergabe des Vorlasses an die Universitätsbibliothek viel mit Habermas persönlich zu tun. Für die Abwicklung der Archivübergabe besuchte er den Philosophen und seine Frau in deren Haus im oberbayerischen Starnberg. Soll er das Ehepaar mit einem Wort beschreiben, fällt ihm "Schaffergenera-
tion" ein. Nicht ohne hinzuzufügen, dass beide "sehr sympathisch und sehr zugänglich" sind - bei einem "Weltphilosophen" alles andere als selbstverständlich.

Schopenhauer-Nachlass

"Ich bin nur ein Archivar, aber er nimmt mich in meiner Funk-
tion total ernst", sagt Jehn. Sich als Glied in einer langen Kette philosophischer Überlieferung erlebend, weiß Habermas wohl besser als andere um die Langzeiteffekte von Archiven. Im Keller der Universitätsbibliothek Frankfurt vor den Habermas-Regalen stehend, braucht man sich zur Bestätigung der langfristigen Bedeutung von philosophischen Werksammlungen nur umzudrehen. Gegenüber von Habermas steht ein anderer deutscher Weltphilosoph: "Arthur Schopenhauer haben wir auch", sagt Jehn und zeigt auf die mit den Schriften des 1860 in Frankfurt verstorbenen "Welt als Wille"-Denkers gefüllten Regalmeter.

Im Unterschied zum Habermas-Archiv hängen hier einige üppig gerahmte Schopenhauer-Porträts. Und daneben beherbergt das Archivzentrum auch noch museale Überbleibsel aus dem Leben des Philosophen: ein Knopfmosaik, sein Sterbesofa, 660 Privatbücher . . .

Die bekannteste These Schopenhauers über den "Primat des Willens" schaffte es sogar ins philosophische Allgemeingut: "Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will." Den nach wie vor vorhandenen Willen vieler, sich mit Schopenhauers Gedankenwelt zu beschäftigen, belegen die konstant hohen Benutzerzahlen seines Nachlasses. Der Großteil der da-ran interessierten Wissenschafter kommt, laut Jehn, aus Deutschland, Italien, Japan und Brasilien.

Der größte "Habermas-Fan" kommt hingegen aus den Niederlanden. "Da gibt es einen Kollegen in Holland", sagte Habermas vor einigen Jahren zu Jehn - und so begann eine Geschichte, an deren Ende weitere 5250 Bücher und 216 mit Aufsätzen gefüllte Ordner Habermas-Primär- und Sekundärliteratur im Keller des Frankfurter Archivzentrums landeten. Auf dem Weg zu diesem jüngsten Habermas-Neuzugang sperrt Jehn wieder ein paar Türen auf und mahnt zur Vorsicht: "Kopf einziehen!"

Sammelleidenschaft

Besagter Kollege aus Holland hielt sich beim Besuch bei "seinem Habermas" nicht daran und stieß sich prompt den Kopf an einem der an der Decke hängenden Rohre an. Der Schmerz nach diesem Hoppala dauerte nur kurz; die "schöne, aber unheilbare Krankheit", wie René Görtzen seine Begeisterung für Habermas bezeichnet, verfolgt ihn hingegen seit über 40 Jahren.

Nach Beendigung seines Studiums der Philosophie und Pädagogik an der Vrije Universiteit Amsterdam 1977 kam der Niederländer als Universitätsdozent und wissenschaftlicher Bibliotheksangestellter für zwei Semester nach Frankfurt, um Vorlesungen von Habermas und dessen kongenialem Partner bei der Entwicklung der Diskursethik, Karl-Otto Apel, zu hören. Im Mittelpunkt seines Studiums stand Habermas’ Freud-Interpretation, zu der er bereits erste Publikationen sammelte. Eine niederländische Zeitung wurde darauf aufmerksam und beauftragte ihn, eine erste Bibliographie der Habermas-Schriften zu verfassen.

Hier bekommt man einen Eindruck der wahren Dimensionen von Habermas' "Vorlass" . . .
© Machreich

Persönlich lernte Görtzen Habermas im berühmten Hörsaal IV der Goethe-Universität kennen: "Ich war unmittelbar beeindruckt von ihm", berichtete der heute 70-Jährige in einem Interview mit der Deutschen Presseagentur (dpa): Als ein Student eine halbe Stunde lang vor sich hin schwafelte, sei Habermas ruhig geblieben und habe dann mit einem "philosophischen Glanzstück" geantwortet. Doch auch der Professor hatte Gefallen am Gasthörer aus den Niederlanden, war er doch interessiert daran, dass der Suhrkamp Verlag die von Görtzen verfasste Bibliographie für seine Publikationen verwenden durfte.

Schnell entwickelte sich eine "Duz-Freundschaft" und "große gegenseitige Wertschätzung" zwischen den beiden, sagt Jehn. Und Görtzen habe ihm gestanden, dass er das Sammeln der Habermas-Schriften ohne die Sympathie für deren Verfasser nicht fortgeführt hätte.

Koffer mit 400 Büchern

Seit 1980 widmete sich Görtzen systematisch dieser Leidenschaft: "In dieser Zeit fing ich an, alles von ihm und über ihn in jeder Sprache zu sammeln." 1982 publizierte er bei Suhrkamp eine Habermas-Bibliographie. Waren es in dieser Zeit noch acht bis zehn Fremdsprachen, stieg deren Zahl kontinuierlich auf über 30 an, darunter Arabisch genauso wie Japanisch, Albanisch wie Hebräisch, Chinesisch oder Norwegisch.

Für seine Sammlertätigkeit reiste Görtzen um die ganze Welt, besuchte Nationalbibliotheken und wissenschaftliche Buchhandlungen in- und außerhalb Europas. Einmal nahm er aus Buenos Aires Koffer mit über 400 Habermas-Büchern mit nach Amsterdam, wo er eine 70-Quadratmeter-Wohnung in der Innenstadt zu (s)einem Habermas-Archiv umfunktionierte. Als auch das zu klein wurde, suchte Görtzen nach einer institutionellen Alternative. Eine amerikanische Universität war interessiert, aber Görtzen entschied sich für Frankfurt, um sein Archiv mit dem Habermas-Vorlass zu vereinen.

Für Matthias Jehn ein Glücksfall: "Die Sammlung Görtzen ist ein weiterer wichtiger Baustein für die umfangreiche Überlieferungsbildung von Jürgen Habermas." Als Görtzens "Der ganze Habermas" im Herbst 2017 von einer Kunstspedition aus der Amsterdamer Archiv-Wohnung im vierten Stock abgeholt wurde, musste sogar die Straße gesperrt werden.

Er habe "zwei Leben geführt", sagte Görtzen gegenüber der dpa, "eines in der Wissenschaft und das andere in der Geschäftswelt". Neben seinem Hobby als Habermas-Bibliothekar ist Görtzen erfolgreicher Geschäftsmann in der Immobilienbranche. Doch er gibt zu: "Nicht Ziffern, nur Buchstaben machen mich glücklich." Ein bescheidener Ansatz, der gut zum Habermas’schen Kosmos im Keller der Universitätsbibliothek Frankfurt passt. Auch dort muss man sich ducken, um zu Großem zu gelangen.

Wolfgang Machreich war von 1999 bis 2010 Außenpolitik-Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Furche" und ist nunmehr freier Autor und Journalist.