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Seenotrettung im Mittelmeer: Helfer oder Handlanger?

Von Michael Ortner

Politik

Sie retten Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken. Politiker unterstellen den Hilfsorganisationen, dass sie durch ihre Präsenz mehr Flüchtlinge und Migranten anziehen. Was ist dran an der These vom "Pull-Faktor"?


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Wien. Es kommen so wenige Menschen wie schon lange nicht mehr über das Mittelmeer nach Europa. Rund 34.000 Migranten haben 2019 bisher die gefährliche Überfahrt gewagt. 2018 waren es im selben Zeitraum doppelt so viele. Wie riskant die Flucht über das Meer ist, zeigt das schwere Bootsunglück vor der libyschen Küste mit mehr als 100 Vermissten am Donnerstag.

Doch der Streit über die Verteilung der Geretteten wird so emotional ausgetragen wie seit langem nicht mehr. Auf der einen Seite zeichnet sich eine "Koalition der Willigen" ab. 14 EU-Länder wollen einer Verteilung zustimmen.

Auf der anderen Seite bauen die Hardliner weiter an der Festung Europa. Schiffen wird die Einfahrt verweigert, Kapitäne werden vor Gericht gezerrt. Italien setzt auf Abschreckung und will künftig Strafen in Höhe von bis zu einer Million Euro verhängen - wenn sich wieder ein Rettungsschiff einem Hafen nähern sollte. Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz kritisierte den deutsch-französischen Vorschlag für einen neuen Verteilmechanismus. Es würde ein "falsches Signal in Richtung Schlepper und Migranten" senden. Denn dadurch würden sich mehr Menschen auf den Weg machen. Zieht Flüchtlingsverteilung also eine Massenzuwanderung nach sich?

Fundament für Aussagen wie die von Kurz ist die These, dass es einen sogenannten Pull-Effekt gibt. Die Migranten fliehen von Afrika Richtung Europa, in dem Wissen, dass hilfsbereite Menschen sie aus dem Wasser retten. Schiffe wie die "Sea Watch 3", die "Alan Kurdi" und die "Lifeline" würden wie Lockvögel wirken, so der gängige Vorwurf. Auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex vermutet in einer Risiko-Analyse aus dem Jahr 2017 einen solchen Effekt.

Kreuzen mehr Rettungsschiffe, fliehen mehr Migranten. Es klingt einfach und logisch. Doch Wissenschaftern zufolge lässt sich die These nicht erhärten. "Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass die Seenotrettung einen Beitrag dazu leistet, dass sich mehr Menschen auf den Weg machen", erklärt Jochen Oltmer, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück.

Keine empirischen Belege

Eine Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2017 hat etwa untersucht, ob die Anwesenheit von Rettungsmissionen mehr Migranten zu einer Überfahrt über das Mittelmeer ermutigt. Dazu wurden Ankunftszahlen aus Zeiten mit hoher und niedriger Rettungsaktivität im Zeitraum 2014 bis 2016 verglichen. Das Resultat: Die Zahlen unterscheiden sich kaum. Die Studie wurde häufig zitiert. Kritiker sagen aber, sie sei veraltet und würde die derzeitige Situation nicht abbilden. Zahlen aus der ersten Hälfte des Jahres 2019 zeigen jedoch, dass sich auch heute kein Pull-Faktor empirisch belegen lässt. Der Migrationswissenschafter Matteo Villa vom "Italian Institute for International Political Studies" hat erhoben, wie viele Migranten von der libyschen Küste ablegen und an wie vielen dieser Tage Rettungsschiffe von zivilen Organisationen in der Nähe waren.

Sein Ergebnis: Von 1. Jänner bis 30. Juni fuhren an 31 Tagen NGO-Schiffe vor den libyschen Gewässern. In dieser Zeit schickten Schlepper im Schnitt 32,8 Menschen aufs Meer. An den 149 Tagen, an denen kein Rettungsschiff unterwegs war, legten durchschnittlich 34,6 Menschen ab. "Die privaten Rettungsschiffe haben keinen Effekt auf die ablegenden Boote", sagt Villa der "Wiener Zeitung". Was sich stattdessen auf die Überfahrten der Migranten ausgewirkt habe, sei die Flüchtlingspolitik Italiens. Der frühere Innenminister Marco Minniti schloss 2017 einen Deal mit libyschen Milizen. Die sollten die Schlepper stoppen. Also änderten sie ihre Strategie. Anstatt die Menschen aufs Meer zu schicken, sperrten sie die Schlepper in Flüchtlingslager. Zwischen Juli 2017 und Mai 2018 ging die Zahl der ablegenden Migranten im Schnitt um 13.000 zurück. "Der Rückgang ist höchst signifikant", betont Villa, der seine Daten vom Innenministerium, von den Vereinten Nationen und aus Medienberichten zusammentrug.

"Fluchtwege sind nicht linear"

Die Politik der geschlossenen Häfen des jetzigen Innenministers Matteo Salvini habe einen ähnlichen Effekt. Außerdem spielt Villa zufolge das Wetter eine entscheidende Rolle. In den Sommermonaten würden sich aufgrund der günstigen Bedingungen mehr Boote auf den Weg machen.

Die Flucht überhaupt anzutreten, ist eine komplexe Entscheidung. Meist sind es jüngere Männer, die bereit sind, das Risiko auf sich zu nehmen. "Die Pull-These stellt es relativ schlicht dar: Die Menschen sind selbst gar nicht aktiv", sagt Oltmer. Die Vorstellung vom passiven Migranten widerspricht jedoch der Realität.

Die Menschen nehmen zum Teil sehr lange Reisen auf sich. "Befragungen haben gezeigt, dass ein nicht geringer Teil tatsächlich mehr als zwei Jahre unterwegs war, um überhaupt nach Nordafrika zu gelangen", erzählt Oltmer. "Die Fluchtwege sind nicht linear. Die Leute werden aufgehalten, müssen Grenzen überqueren, Umwege in Kauf nehmen. Oft müssen sie pausieren, um Geld für die Weiterreise zu verdienen."

Die Migranten rechnen also nicht mit dem Faktor Seenotrettung. Wie sieht es aber mit den Schleppern aus? "Die Entscheidung, wann ein Boot rausgeht, treffen die Schlepper. Sie haben keinerlei Skrupel und nehmen keine Rücksicht, ob jemand gerettet wird oder nicht", berichtet Migrationsforscher Marcus Engler.

Die Schlepper reagieren schnell und passen sich den Bedingungen im Mittelmeer an. Setzten sie früher große Holzboote ein, sind es heute nur noch kleine Schlauchboote. Sie wollen mehr Menschen mit möglichst geringem Aufwand aufs Wasser bringen. Der Profit zählt. In Libyen sind Schlepper und Milizen eng verzahnt. Sie arbeiten sowohl in der Seenotrettung als auch als Menschenschmuggler. "Das ist ein attraktiver Markt für die Milizen", sagt Oltmer.

Dass die Zahl der Mittelmeerüberquerungen so niedrig ist, wundert ihn nicht. "Die EU und Einzelstaaten haben mit west-, ost- und nordafrikanischen Staaten viele Verträge geschlossen, die Grenzen besser zu sichern", erklärt Oltmer. "Die Wege nach Europa sind blockiert."