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Adipositas wird die Seuche des 21. Jahrhunderts. | Warnung vor reiner Ökonomisierung der Forschung. | Semmering. Auf die grandiosen Errungenschaften der modernen Medizin, aber auch die vielen damit verbundenen Spannungsfelder wies am Freitag die Innsbrucker Chirurgin Hildegunde Piza in einem Referat beim Österreichischen Wissenschaftstag auf dem Semmering hin. Ein Problem sei bereits die Definition von Gesundheit, mit der ja auch die Finanzierung medizinischer Maßnahmen einhergehe. Die Tendenz gehe dahin, Gesundheit positiv als "Wohlbefinden" zu definieren, nicht als Freisein von Krankheiten. Für Piza sollte die Grundlage einer solchen Definition die Pathologie sein, "das Wohlfühlen sollen sich die Menschen selber zahlen".
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In diesem Zusammenhang kritisierte Piza das Zunehmen einer "Wunschmedizin", die sich in kosmetischen Eingriffen wie Nasenkorrekturen, Faltenbeseitigung oder Fettabsaugung zeige. Was extremes Übergewicht anlangt, so warnte Piza vor der Zunahme von Adipositas auch in Österreich, das hier weltweit an sechster Stelle liege: "Das wird die Seuche des 21. Jahrhunderts."
So positiv es sei, dass Schmerzmittel heute bereits fast alle Schmerzen ausschalten oder deutlich lindern können, so fragwürdig sei die allzu häufige Verschreibung und Anwendung von Medikamenten. Auf diese Weise werde "das Terrain des Krankhaften ständig künstlich erweitert und das des Gesunden verkleinert". In Großbritannien und den USA sei es schon zu einem Boom von Lifestyledrogen für Kinder und Jugendliche gekommen. Die Pharmaindustrie sei auch erfinderisch, wenn es darum gehe, nicht erfolgreiche Medikamente doch noch zu vermarkten. Um den Verkauf eines Antidepressivums anzukurbeln, seien vor einigen Jahren plötzlich ein "Diana Syndrom" und ein "Sisi Syndrom" entdeckt worden.
Die "prädiktive Medizin" widme sich Menschen, bei denen laut Genuntersuchungen der Ausbruch bestimmter Krankheiten wahrscheinlich ist. Das bedeute Ängste, ständige Kontrollen und unter Umständen das vorsorgliche Entfernen bedrohter Organe, was - etwa bei Brustamputationen junger Frauen - belastend und fragwürdig sei. Ein anderes heikles Kapitel sei die Reproduktionsmedizin. Auf der einen Seite habe die Hormonforschung zur Pille und zu einem deutlichen Geburtenrückgang geführt, heute werde vermehrt der Kampf gegen Unfruchtbarkeit geführt. Kritisch äußerte sich Piza zu Schadenersatzforderungen von Eltern an Ärzte, wenn Kinder mit Fehlbildungen zur Welt kämen und die Mediziner sie nicht vorgewarnt und zur Abtreibung geraten hätten oder das Kind trotz eines Abtreibungsversuches zur Welt gekommen sei.
2050: Um 180 Prozent mehr 80-Jährige
Geburtenrückgang und steigende Lebenserwartung führten, so Piza, nun zu einer durchschnittlich sehr alten Bevölkerung. Bis zum Jahr 2050 werde die Zahl der Kinder um 19,4 Prozent, jene der Jugendlichen um 25 Prozent sinken, dagegen sei dann mit 44 Prozent mehr Menschen über 65 Jahren und sogar mit 180 Prozent mehr Personen über 80 Jahren zu rechnen. Wenn die Gesellschaft aber die Gesundheitskosten nicht mehr anheben könne oder wolle, müsse irgendwo eingespart werden, etwa - wie es sich in Großbritannien schon zeige - bei der Einschränkung von Behandlungen ab einem bestimmten Lebensalter.
Kleine Hoffnungen bestehen unter anderem darin, dass mehr Krankheiten heilbar werden, dass effizienter gearbeitet wird (keine unnötigen teuren Mehrfachuntersuchungen) und dass die Menschen gesundheitsbewusster leben (was sie aber älter werden lässt und damit wieder Probleme aufwirft).
Zu Beginn der Tagung hatten sich Achatz von Müller, Historiker in Basel, und Matthias Lutz-Bachmann, Philosoph aus Frankfurt, gegen eine reine Ökonomisierung von Wissenschaft und Forschung und Überprüfung ihrer "Nützlichkeit" ausgesprochen. Der Bologna-Prozess, der bekanntlich über "Kreditpunkte" Studiengänge und Titel (Bachelor, Master, PhD) vereinheitlichen und zur Flexibilisierung führen soll, wurde in diesem Zusammenhang heftig kritisiert. Durch eine "Modularisierung" des Studiums, so Lutz-Bachmann, werde die Universität zu einem Warenhaus. Offenbar wolle man die Trennung von Lehre und Forschung erreichen, dann solle man das aber auch laut sagen.
Code Geld statt Code Wahrheit
In den ersten Diskussionen der noch bis Samstag andauernden Tagung, bei der auch noch Referenten aus anderen Disziplinen zu Wort kommen, klang aber auch an, dass sich die Wissenschaft und ihre Einrichtungen sehr wohl auch nach ihrem Nutzen fragen lassen und den Medien und der Gesellschaft über ihre Verantwortung Rede und Antwort stehen müssen. Der Grazer Soziologe Manfred Prisching meinte, die alte Universität sei tot, man habe nur noch Phantomschmerzen. Der Code Wahrheit werde durch den Code Geld ersetzt, die Gesellschaft sei vorwiegend an Spaß und Geld interessiert und stehe all dem gleichgültig gegenüber.