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"Sehen Sie hier einen Faschisten?"

Von Veronika Eschbacher aus Lemberg

Politik
Touristengruppe in Lemberg - die Gäste aus dem Osten der Ukraine bleiben heuer aus.
© Eschbacher

In Lemberg zeigt sich, wie sehr sich der Westen und der Osten der Ukraine entfremdet haben.


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Lemberg. Sechs Stunden steht sich Ondrij im Lemberger Zentrum, am Marktplatz, bereits die Beine in den Bauch. Die Sonne brennt dem 35-jährigen Touristenguide auf die Stirn, der immer wieder unter einem Baum Schatten sucht. "Eine einzige Gruppe hat sich heute nach einer Führung erkundigt - und die wollten ganze drei Rubel dafür Zahlen. Habe ich denn so etwas nötig?", fragt er und schüttelt gleichzeitig den Kopf. "Völlig sinnlos ist das hier momentan."

Ein Rundgang rund um das Lemberger Rathaus im Zentrum der westukrainischen Stadt genügt, um festzustellen, wie sehr man hier auf den Tourismus setzt. Frühmorgens räumen die Einheimischen ihre liebevoll gestalteten Souvenirwagen auf den Platz, Restaurants und Cafés richten ihre Terrassen her, und Ausflugsveranstalter stellen ihre Leihräder aus. 1,7 Millionen Gäste hat Lemberg im Vorjahr angelockt, ein neuer Rekord. Gerade erst wieder haben drei neue, große Hotels eröffnet. Zwischen fünf und neun Prozent der Menschen arbeiten bereits in diesem Bereich, ganze 20 Prozent hat sich der Bürgermeister zum Ziel gesetzt. Tourismus und ein starker IT-Sektor - dahin soll die Reise gehen.

Zumindest bei Ersterem jedoch hat die Rekordjagd durch die politischen Turbulenzen im Land vorerst ein jähes Ende erreicht. "95 Prozent unserer Gruppen aus dem Ausland haben storniert", sagt Jurij, der Inhaber eines Reisebüros in Lemberg. "Mit Glück kommen noch zwei - wobei, große Hoffnungen mache ich mir nicht." Ausländische Gäste werden zwar immer wichtiger, aber die großen Massen kommen aus dem eigenen Land. Knapp zwei Drittel der Besucher stammen aus dem Osten, aber auch der Zentralukraine. Und gerade im Osten baut sich, nicht zuletzt durch die mit dem Konflikt einhergehende Propagandaschlacht, eine steigende Entfremdung - um nicht zu sagen Scheu oder gar Hass - zum Westen des Landes auf. Bewohner des Westens waren maßgeblich an der Revolution am Maidan beteiligt.

Aus dem Westen aber kamen nicht nur friedliche Demonstranten, sondern auch radikale Elemente, wie etwa die nationalistische Partei Swoboda, die in der Region ihre Hochburg hat, oder ihr extremer Flügel, der sogenannte "Rechte Sektor". Gerade auf diesen hat sich die Anti-Kiew-Propaganda eingeschossen. Nicht wenige im Osten glauben heute, dass im Westen überall Radikale des "Rechten Sektor" sitzen, Faschisten - die ihnen im Osten an den Kragen wollen.

"Sehen Sie sich doch hier um, sehen Sie hier auch nur einen Faschisten?", fragt Jurij. Der 52-jährige Selbständige kann nur den Kopf schütteln, wenn er diese Vorwürfe hört. "Wir Lemberger sind genau so alle Faschisten, wie im Osten alle Kosmonauten sind." Dass es den "Rechten Sektor" gibt, will er nicht abstreiten. Aber dessen Bedeutung sei um ein Vielfaches überzeichnet. Und auch die Partei Swoboda habe durch radikale Aktionen ihrer Parteimitglieder über die letzten Wochen extrem an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. "Sie werden sehen, die werden bei der nächsten Parlamentswahl böse abstürzen."

Und wenn die Vorwürfe Jurij fast ein wenig aus der Fassung bringen, amüsieren diese andere Lemberger. Manche versuchen mittlerweile, daraus Kapital zu schlagen. "Es gibt jetzt zwei junge Leute, die sich kleiden wie Mitglieder des ,Rechten Sektors‘ und am Marktplatz herumlaufen, und sich dann für ein paar Griwen mit Besuchern fotografieren lassen", erzählt ein Guide. Ein Reisebüro hätte Bandera-Touren (der Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera gilt als Ikone des "Rechten Sektors") ins Programm aufgenommen. Ein Café hat sich in "Rechter Sektor" umbenannt - dort kann man, auf Autoreifen sitzend, "Molotow-Cocktails" schlürfen.

Ziel für Flüchtlinge

Um einiges ernster nimmt die Ängste die Stadtverwaltung. Seit März lädt der Bürgermeister jedes Wochenende für drei Tage Studenten aus dem Osten ein, damit diese die Region kennenlernen und sich selbst ein Bild machen können. Bisher waren gut 2000 Studenten aus Mariupol, Donezk oder Luhansk in der Stadt. Örtliche Restaurants und Hotels sponsern die Aktion. "Wir haben bereits vor drei Jahren angefangen, Lemberger Tage im Osten zu veranstalten. Damals war dies noch dazu gedacht, die Menschen als Touristen anzuwerben", sagt Ondrij Moskalenko von der Stadtverwaltung. "Heute aber haben wir verstanden, dass der Austausch zwischen dem Westen und Osten für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft immens wichtig ist."

Aufgrund der unsicheren Lage in anderen Landesteilen kommen auch immer mehr Ukrainer in die Region, die Zuflucht suchen. Mehr als 2000 Flüchtlinge von der Krim haben sich bereits angesiedelt. Das ist mehr als anderswo im Land, die Stadtverwaltung hat alle Hände voll zu tun, sie zu unterstützen. Hinzu kommen vermehrt Familien aus dem Osten des Landes, die sich dort aufgrund der Anti-Terror-Operation der Regierung nicht mehr sicher fühlen oder die Städte verlassen, weil sie ihre proukrainische Gesinnung nicht ausdrücken können.

Manche Ostukrainer tun sich schwer, ihre Landsleute im Westen zu verstehen. Vor allem die Bandera-Denkmäler liegen ihnen schwer im Magen. "Müssen die denn sein? Wir haben noch so tiefe Wunden aus dem Zweiten Weltkrieg, wieviele mussten ihr Leben lassen im Kampf gegen die Faschisten, und dort werden sie verherrlicht", hört man dort.

Trotz aller Bemühungen weiß man auch in der Stadtverwaltung, dass dem Tourismus in Lemberg heuer ein dickes Minus ins Haus steht. Auch Ondrij, der Guide, sieht mit Zweifeln in die Zukunft. "In den 1990er Jahren habe ich hier vor dem Rathaus Fußball gespielt, so viel Platz war. Das kann ich jetzt auch bald wieder, wenn es so weitergeht."