Juso-Chef Kevin Kühnert kommt in der SPD so gut an, weil er die Erwartungen der Parteibasis erfüllt.
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München. Ludwig II. gilt als König der bayerischen Herzen. Doch erst nach seinem Tod 1886 setzte die Popularität des Regenten ein. Der SPD-Liebling dieser Tage weilt unter den Lebenden, auch wenn er am Freitag wohl lieber das Bett hüten möchte als aufzutreten - im "Ludwigs Stuben" eines Gasthauses. "Matschig" fühlt sich Kevin Kühnert und nimmt einen Schluck Tee aus dem Glas. Er blickt auf holzvertäfelte Wände, ein Kreuz in der Ecke, ein Hirschgeweih, Bilder von Fass-Anstich, Brauereipferden, natürlich Ludwig und auf 150 Personen, die sich um die Plätze drängen.
Sie lauschen einem 28-Jähigen, dessen Namen noch vor drei Monaten niemand kannte. Damals wurde Kühnert zum Vorsitzenden der Jungsozialisten in der SPD gewählt. Heute ist der Student der Politikwissenschaft und Bezirkspolitiker in Berlin prominentester Gegner der "GroKo". Bis 2. März stimmen rund 464.000 Mitglieder der deutschen Sozialdemokraten über den Koalitionsvertrag ab. Sie entscheiden, ob die schwarz-rote Regierung fortgesetzt wird. Ludwig II. ging für seine Märchenschlösser wie Neuschwanstein in die Geschichte ein. Baut Kühnert mit seinem Oppositionskurs ein geistiges Märchenschloss?
Sein Einsatz sei "keine jugendliche Naivität", sagt Kühnert. Tatsächlich sah selbst das Parteipräsidium nach der Bundestagswahl im September und nachdem die Gespräche für eine "Jamaika"-Koalition zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen im November geplatzt waren, die SPD in der Opposition. Doch weil Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ein Sozialdemokrat, Neuwahlen ablehnt, lenkte - oder knickte, je nach Sichtweise - die Spitze um den damaligen Parteichef Martin Schulz ein. Staatspolitische Verantwortung nennen das die einen. Kühnert sieht den Druck auf die SPD dagegen als die "alte Vaterlandsverräternummer, die es seit 100 Jahren gibt" an.
Die Stimmung im Saal ist klar gegen die Koalition, nur wenige melden sich mit Bedenken zu Wort. Zu den Unentschlossenen zählt Helena Schwinghammer: "Meine Freunde sind bei den Jusos und gegen die ‚GroKo‘. Aber meine Familie ist für die Koalition", sagt die 19-Jährige. Die Studentin ist seit einem Jahr Parteimitglied und quittiert diesen Umstand mit Humor: "Ich bin im Schulz-Zug mitgefahren."
"Unmögliche politische Sprache"
Anders als der impulsive Kurzzeit-Parteichef ist Kevin Kühnert kein Mann der lauten Töne, verkörpert aber genauso Hoffnung wie Schulz 2017. "Unser Politikangebot hat nicht ausgereicht", sagt Kühnert. Nur noch 20,5 Prozent wählten die SPD, so wenige wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. "Bei Arbeitsmarkt-, Familien-, Gesellschafts- und Steuerpolitik sind die Gemeinsamkeiten aufgebraucht", sagt Kühnert nüchtern. Seine Zuhörer packt die Botschaft dennoch. Denn acht der vergangenen zwölf Jahre war die SPD Juniorpartner in einer von Angela Merkel angeführten Regierung. Es reicht.
Kühnert spricht viel über inhaltliche Erneuerung. Er fordert ein neues Grundsatzprogramm ein, das die Veränderungen bei Finanzmärkten, Digitalisierung, internationalem Terrorismus und Migration berücksichtigen solle. Empfindet es als "Frechheit", dass auch nach zwölf Merkel-Jahren nicht beantwortet sei, was denn passiere, wenn die Babyboomer in Pension gehen. Und wischt das CDU-Lieblingsthema des ausgeglichenen Haushalts vom Tisch, setzt es einem "Investitionsstau" in Höhe von 150 Milliarden Euro entgegen.
All das wurde schon vor Kühnert gesagt. Der Jungsozialist bietet Neues, indem er ein anderes SPD-Grundproblem schonungslos benennt: "Wir haben eine völlig unmögliche politische Sprache." Während jedem klar sei, was die CSU unter "Obergrenze" für Flüchtlinge verstehe, operiere die SPD etwa in der Pensionspolitik mit dem Wortungetüm "doppelte Haltelinie".
Und Kühnert kommt an, weil er den wunden Punkt der Partei, die Sehnsucht nach verlorener Größe offenlegt. Seit 2005 stellt sie nicht mehr den Kanzler: "Die permanente Zusammenarbeit mit der Union ist eine Art Demütigung." In der vergangenen Legislaturperiode haben die Wähler die SPD trotz Erfolgen wie Mindestlohn und Mietpreisbremse abgestraft. "Die Erwartungen an die SPD sind größer" schlussfolgert Kühnert und fordert "größere Ideen bei Arbeitswelt und Ungleichheit" ein.
Konservativer hofft auf Kühnert
"Über die Agenda 2010 ist die SPD nicht hinweggekommen. Der Niedriglohnsektor ist mit 22 Prozent der Größte in Europa", bemängelt Lilli Kurowski. Die 78-Jährige ist seit mehr als einem halben Jahrhundert Parteimitglied, zudem im Verein "Einspruch" tätig, der Rechtsberatungen anbietet. Sie sieht nicht die AfD als Hauptproblem, sondern die Abwanderung enttäuschter SPDler ins Lager der Nichtwähler. Vor der AfD sollen sich die Genossen genauso wenig fürchten wie vor Neuwahlen, sagt Kühnert - "sonst könne man den Laden gleich zumachen". Zuletzt sah eine Umfrage die AfD erstmals bundesweit vor der SPD. Kühnert setzt darauf, dass Diskussionen um die Richtung der SPD von den Bürgern honoriert werden: "Niemand will klinische Parteien."
Ein im Saal anwesendes Mitglied der Jungen Union Bayern sagt anerkennend: "So einen Diskussionsprozess gab es bei uns nie." Die Jungkonservativen begehrten auf, als Kanzlerin Merkel den Verzicht des Finanzministeriums zugunsten der SPD bekanntgab - am Montag werden bei einem Parteitag die CDU-Minister bekanntgegeben. Der Mann, er möchte anonym bleiben, hofft, dass die SPD-Basis gegen den Koalitionsvertrag stimmt. Und die bisher unentschlossene Helena Schwinghammer wird dem Konservativen dabei helfen. Sie ist nach Kühnerts Auftritt zu "53 Prozent" gegen Schwarz-Rot. Ein Mann im Publikum will Kühnert gar als neuen SPD-Vorsitzenden sehen: "Ich nicht", schüttelt dieser allerdings den Kopf. Ob sich das eines Tages als Ludwig’sches Märchen entpuppt?