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Sehnsucht nach dem Kampf

Von Hülya Tektas

Politik

Zwei ehemalige Kämpferinnen der PKK verfolgen in Wien, wie die IS-Terrormilizen ihre Heimat angreifen.


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Wien. Als sie die Stimmen der türkischen Soldaten hörte, hielt Leyla den Sicherungsstift der Handgranate bereits in der Hand. "Sollten sie mich hinter dem Felsen entdecken, war ich bereit, mich in die Luft zu sprengen, aber auch die Soldaten mit in den Tod zu nehmen", erzählt Leyla seelenruhig.

Sie bereitet das Abendessen für ihre Familie in Meidling zu. Die 35-jährige Kurdin stammt ursprünglich aus Rojava. Das Gebiet liegt im Nordosten Syriens und umfasst die kurdischen Territorien. Auf Kurdisch bedeutet Rojava der Westen. Früher hat Leyla gekämpft, in den kurdischen Bergen für die PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, die von der Europäischen Union und den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Gegen den türkischen Staat hat sie damals gekämpft. Ihr Einsatz ist nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Bei einer Operation im Nordirak wurde sie durch aus türkischen Fliegern geworfene Schüttbomben verletzt. Bis heute wurde sie nicht therapiert und spürt oft in jenen Körperstellen Schmerzen, wo die Munition sie getroffen hat.

Kobane mittenin Wien

Seit zehn Jahren kämpft sie nicht mehr. Sie lebt in Wien. Arbeitet als Kassiererin in einem Supermarkt und ist Mutter von zwei Kindern. Doch seit die Terrormiliz des Islamischen Staates (IS) die Nachrichten in ihrem Wohnzimmer beherrschen, ist der Kampf auch wieder in Leylas Leben zurückgekehrt. Täglich beobachtet sie, wie ihre Landsleute ihre Städte vor den Terroristen verteidigen. Die Frage, ob sie auch heute kämpfen würde, wenn sie in Rojava wäre, beantwortet die zweifache Mutter mit Ja. "Sie besetzen unser Land und berauben uns unserer Freiheit. Das ist ein Angriff auf unsere Ehre, die es zu verteidigen gilt." Genau aus diesem Grund kämpfte einst auch ihre Schwester für die PKK. Und genau aus demselben Grund kämpft heute Leylas Nichte für die Frauenverteidigungseinheit der Organisation. Und das unter Leylas einstigen Guerillanamen "Dirok." Es bedeutet "die Geschichte."

Leylas Familie, die noch heute in Rojava lebt, hat gelernt, sich gegen die Angriffe der IS-Milizen zu verteidigen. Ihr Vater hat ein Gewehr zu Hause, "wie viele andere kurdische Familien auch", meint Leyla. "Selbstverständlich würde er sein Gewehr einsetzen, falls sie angegriffen werden", fügt sie hinzu. Sie schaut auf den Fernseher. In Leylas Wohnung läuft er auch während des Abendessens. Die ganze Familie konzentriert sich auf die Nachrichten. Nachdem die eine Nachrichtensendung zu Ende ist, wird eine weitere auf einem anderen Kanal geschaut, wobei sich alle dem einen Thema widmen: IS-Angriffe auf die kurdische Stadt Kobane. Der Krieg in Kobane ruft bei Leyla Erinnerungen wach. Nun ist der Krieg wieder mal der Mittelpunkt ihres Lebens.

Bereits seit der Gründung der PKK in den 1980er Jahren kämpfen kurdische Frauen neben den Männern an der Front. Und das nicht nur in der Türkei, sondern auch im Nordirak. Dort sind es die Peschmerga, die Widerstand leisten. Rund ein Drittel der Kämpfer in Syrisch-Kurdistan sind Frauen. Sie kämpfen unter dem Namen "YPJ" (Frauenverteidigungseinheiten), eben als Frauenkampfverband der YPG. Große mediale Aufmerksamkeit bekamen die kurdischen Kämpferinnen insbesondere seit den aktuellen IS-Angriffen. Da die vermummten Männer in der schwarzen Kluft, dort die Frauen in Militärkluft, die ihnen versuchen, die Stirn zu bieten.

Feminismusund Gewehr

Wenn ihre Gesundheit es zulassen würde, wäre auch Agire jetzt in Kobane, um zu kämpfen. "Es ist sehr, wirklich sehr lange her, als ich das letzte Mal in Kobane war", sagt die zierliche 38-Jährige. Agire stammt aus Kobane. Ebenso wie Leyla möchte sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung stehen haben. Sie hat sich mit ihrem Guerillanamen, den sie seit ihrem 16. Lebensjahr trägt, komplett identifiziert. "Das Feuer" bedeutet Agire. Sie nahm den Namen an, als sie sich 1992 der PKK anschloss. Sie und ihr älterer Bruder wurden von ihrem Vater dazu ermutigt. Der Einsatz seiner Kinder für die PKK war eine große Ehre für ihren Vater, der wegen seiner politischen Aktivitäten dem syrischen Regime ein Dorn im Auge war. "Sie nahmen ihn oft fest, folterten ihn und ließen ihn gehen. Dann ging es von vorn los, sie nahmen ihn wieder fest und folterten ihn erneut", erinnert sich Agire. Ist das der Grund für ihren frühen Entschluss für das Guerillaleben? "Nicht nur. Ich wollte ein selbstbestimmtes, freies Leben für die Kurden und kämpfte auch für die Freiheit der Frauen." Es gab damals noch keine nennenswerte kurdische Freiheitsbewegung, in Syrien, deshalb kämpfte sie an der Seite von PKK, "um ihren Traum von einem "freien Kurdistan zu realisieren", betont Agire.

In ihren ersten Jahren bei der PKK, arbeitete sie zuerst mit den Frauen. Sie las mit ihnen philosophische und feministische Werke und unterstützte sie in ihrem Alltag. "Es war nicht immer leicht", erklärt sie, wenn sie heute zurückdenkt. Viele Männer sabotierten Agire und ihre Kameradinnen. "Sie wollten nicht, dass ihre Frauen aufgeklärt sind und nach Gleichberechtigung streben."

Auch Agire wurde von Schüttbomben getroffen. Eine Kugel traf ihr Gesicht. Auch nach mehr als ein Dutzend Operationen ist sie heute nicht ganz geheilt. Die erste Versorgung nach ihrer schweren Verletzung fand noch am Unfallort statt. Als sie wieder auf die Beine kam, war sie nicht mehr fähig zu kämpfen und ging zurück nach Syrien. Von dort musste sie fliehen. Das Regime von Bashar Assad hatte sie im Visier. Sie beschloss, nach Europa zu kommen. Seit sieben Jahren lebt sie nun in Wien, wo sie wegen ihrer Verletzungen therapiert wird.

Die Heimat hat sie deswegen aber noch lange nicht losgelassen. Seit Kobane im Fokus der Welt steht, ist auch Agire vorne dabei. Dieses Mal vollkommen friedfertig. Keine Solidaritätskundgebung lässt sie in Wien aus. Vor ein paar Wochen, am 1. November, fand die bisher letzte Kobane-Aktion dieser Art statt. Der Tag wurde zum "Weltkobanetag" ausgerufen. Nach fast zwei Monaten Belagerung durch die IS-Milizen werden nun die ersten Erfolge gemeldet. Laut einem Sprecher der kurdischen Lokalverwaltung in Kobane konnten die Volksverteidigungseinheiten die Männer des Islamischen Staates aus dem westlichen Teil von Kobane zurückschlagen. Agire und Leyla sind erleichtert. Zumindest eine kleine Verschnaufpause.