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Sehnsucht nach den Volksparteien

Von Georg Friesenbichler

Analysen

CDU-Anspruch contra Analysen. | Bürger sehen inhaltliche Beliebigkeit und Machtstreben. | "Die CDU ist die einzige Volkspartei." Als Parteichefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel im Juni diese Aussage als Wahlkampfmotto vorgab, bezog sie sich selbstverständlich nicht auf die Schwesterpartei ÖVP, die den Begriff hierzulande besetzt hält. In Österreich gebraucht man ja daher den Begriff Großpartei, aber auch den Zuspruch der Wähler meinte Merkel nicht. Vielmehr erhob sie den gleichen Anspruch, wie ihn auch die ÖVP mit ihrem Namen stellt: Nicht Interessensvertretung für einzelne gesellschaftliche Gruppen zu sein, sondern schichtübergreifend verschiedene Wählerschichten anzusprechen.


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"Wir sind keine Wirtschaftspartei", betonte Merkel damals vor ihrer Arbeitnehmerorganisation. Ähnlich hatte dies der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und Merkel-Vize Jürgen Rüttgers schon ein Jahr zuvor formuliert: "Volkspartei sein heißt, Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht als Gegensätze, sondern als Einheit zu verstehen." Der Niedergang der SPD, sagte Rüttgers bei anderer Gelegenheit, sei darauf zurückzuführen, dass diese unter Gerhard Schröder, Bundeskanzler bis 2005, wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt habe.

Diese Analyse hat einiges für sich. Die SPD, die ihren Wandel von der Klassen- zur Volkspartei 1959 in ihrem Godesberger Programm festgeschrieben hat, hat in der rot-grünen Koalition unter Schröder Maßnahmen vollzogen, die zuvor die konservative Bertelsmann-Stiftung als notwendig eingefordert hatte.

SPD-Bruch: Die Agenda

Die Linkspartei, für die Wahl 2005 gebildete Plattform aus Ost-PDS und West-Gewerkschaftern, sammelte viele jener SPD-Wähler ein, die mit der Abkehr von der klassischen linken Politik unzufrieden waren.

Die "Agenda 2010", wie die Schröder-Reformen in Sozial- und Arbeitsmarktpolitik übertitelt wurden, will heute die SPD am liebsten nicht mehr ansprechen, auch nicht Frank-Walter Steinmeier, der an ihrer Erarbeitung beteiligt war. Stattdessen betont sie, wie am Wahlabend Vorsitzender Franz Müntefering, ihre Rolle als Partei der sozialen Gerechtigkeit.

Diesen Platz haben ihr aber mittlerweile nicht nur Grüne und Linke, sondern auch die Union streitig gemacht. Neben Merkel und Rüttgers setzt sich auch CSU-Chef Horst Seehofer vehement für die soziale Marktwirtschaft ein und grenzt sich vom bayerischen Koalitionspartner FDP ab, dem er "neoliberale Streichkonzerte" vorwirft.

Lauter Sozialisten?

Aber sogar FDP-Vorsitzender Guido Westerwelle, der früher alles durch den Markt geregelt haben wollte, führt heute die soziale Gerechtigkeit im Munde und nennt exzessive Abfindung für Pleite-Manager eine "unerträgliche Schieflage". "Der Spiegel" folgerte kürzlich aus solchen Beispielen "Alle sind jetzt Sozialdemokraten" und setzte "Morgen rot" auf den Titel.

Rutscht die ganze Bundesrepublik nach links, wie das Hamburger Magazin vermutet? Oder rudert man nach Schröders "Neuer Mitte", in der die linken Kritiker den Neoliberalismus aufblitzen sahen, nur sachte zurück? Schließlich sind die rot-grünen Reformen ja nach wie vor in Kraft.

Doch mittlerweile scheinen Finanz- und Wirtschaftskrise gemäßigt kapitalismus-kritische Töne auch bei denen salonfähig gemacht zu haben, bei denen man solches noch vor einem Jahr nicht vermutet hatte. Zumindest einige scheinen sich zur Erkenntnis durchgerungen zu haben, dass es nicht mehr die Wirtschaft sein soll, welche die Politik bestimmt, sondern dass der Markt auch "Gestaltung" (ein Lieblingswort Merkels) braucht.

Prototypisches TV-Duell

Mit gegenseitiger Annäherung ergibt sich aber gerade für die beiden klassischen Volksparteien CDU/CSU und SPD das Problem der Unterscheidbarkeit - das dafür prototypische TV-Duell von Merkel und Steinmeier vor der Wahl wurde entsprechend medial kommentiert. Bemerkbar macht sich das an den Wahlurnen: Wie in Österreich sind die Zeiten, in denen die Großparteien weit mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen einfahren konnten, lange vorbei.

Das macht vor allem der SPD zu schaffen. Sie verliert nicht nur Wähler, sondern auch die organisatorische Basis. Fast eine Million Mitglieder hatte sie im Jahr 1978, heute sind es wenig mehr als die Hälfte. Im Juli 2008 jubelte die CDU, dass man die Mitgliederzahl der Sozialdemokraten erstmals knapp übertroffen habe, stand aber vor 30 Jahren, in der alten BRD, mit 675.000 auch noch besser da. Die Union hat mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie die SPD, etwa mit der Überalterung ihrer Wählerschaft. Beobachter glauben, dass die Merkel-Partei, gäbe es eine rechtspopulistische Alternative wie die FPÖ, ähnlich abstürzen würde wie die andere einstige Großpartei.

Nur Allerweltsparteien?

Aber die Größe einer Partei ist laut oben angeführter Definition ohnehin nicht das alleinige Merkmal einer Volkspartei. Manche sehen nur noch solche: Deutschland habe nun "fünf Volksparteien unterschiedlicher Größe", schreibt ZDF-Innenpolitiker Stefan Raue in seinem "Wahlwatching"-Blog und folgt damit dem Historiker Paul Nolte. Alle Parteien wollen alle Bürger ansprechen. Aus dieser Sicht kann es nicht erstaunen, dass sich Freiberufler und Selbständige zu gleichen Teilen von Linkspartei und FDP angesprochen fühlen.

Wenn sich aber alle Parlamentsparteien von dem Konzept der Klientelpartei verabschiedet haben, droht allen das gleiche Schicksal: Der Wähler bekommt den Eindruck inhaltlicher Beliebigkeit und den Verdacht, die Politiker würden nur auf Macht um ihrer selbst willen abzielen. Dies, gepaart mit der mangelnden Einflussmöglichkeit auf die angewandte Politik, stärkt jene Gruppe, die sich Sonntag schon als zweitgrößte Volkspartei gezeigt hat: Die Nichtwähler.