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Sehnsucht nach der Diktatur

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Viele Ukrainer fühlen sich um Hoffnung betrogen. | Vertrauen in Politiker ist erschüttert. | Kiew/Wien. Der Maidan ist wie geschaffen für Julia Timoschenko. Hier, auf dem weitläufigen Platz der Unabhängigkeit im Zentrum Kiews, direkt unter der prächtig illuminierten Statue der Berehynja, hält die ukrainische Premierministerin ihren Wahlkampfauftakt für die Präsidentenwahlen am 17. Jänner ab. Der Ort ist mit Bedacht gewählt: Zum einen gilt die Berehynja, eine Frauengestalt aus der slawischen Mythologie, als eine Art nixenhafte Herdgöttin, die Haus und Heimat beschützt. Zum anderen wurde die Säule mit der Nixe aus Anlass der Unabhängigkeit der Ukraine errichtet.


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Es ist derselbe Ort, an dem vor fünf Jahren der große Gesang von Freiheit und Demokratie erklang: Ab dem 21. November 2004 demonstrierten im ganzen Land Hunderttausende gegen die gefälschte ukrainische Präsidentenwahl. Der Maidan wurde zum Brennpunkt der "Orangen Revolution", die sich gegen das oligarchische und korrupte Regime des damaligen Präsidenten Leonid Kutschma richtete. Orange, die Farbe von Oppositionskandidat Wiktor Juschtschenko, wurde zum Symbol der letztlich siegreichen friedlichen Revolte, zur Hoffnung auf eine Zukunft in einem Land nach europäischem Muster.

Mittlerweile ist die Erinnerung daran verblasst. Auch die stets stimmungsbewusste Julia Timoschenko, 2004 noch Mitstreiterin des jetzigen Präsidenten Juschtschenko, trägt bei ihrem Maidan-Auftritt nicht mehr Orange, sondern unschuldiges Weiß. Die 49- jährige Premierministerin gibt die Kämpferin gegen Korruption - und klingt dabei ähnlich wie Russlands Ex-Präsident Wladimir Putin, wenn sie "eine Diktatur des Gesetzes, der Ordnung, des Rechts, der Ehrlichkeit und Gerechtigkeit" fordert. Das Wort "Demokratie" hat mittlerweile einen schlechten Klang in Kiew.

Der Keim für die heute extreme Verbitterung im Land - manche sprechen gar davon, die nächste Revolution werde nicht mehr so unblutig ablaufen - liegt in dem Gefühl breiter Schichten, abermals um eine Hoffnung betrogen worden zu sein. Tatsächlich hat sich bald herausgestellt, dass die spontane Erhebung auf dem Maidan zumindest kunstvolle Arrangeure hatte: So wurde etwa das über hundert Meter lange Zeltlager, das damals den Platz bedeckte, in großer Schnelligkeit unter der professionellen Anleitung junger "Stoßtrupps der Freiheit" errichtet, die von verschiedenen Instituten, Regierungsstellen und NGOs der USA finanziert wurden. Vor allem aber war die Beziehung zwischen den Revolutionshelden Juschtschenko und Timoschenko nie so herzlich und ungetrübt, wie es in den kalten Novembertagen 2004 schien. Die resolute Politikerin hatte mit Juschtschenko noch eine Rechnung offen: Dass sie 2001 wegen vermuteter Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung in Untersuchungshaft saß, soll ihre Zuneigung zu dem damaligen Premier unter Kutschma nicht gerade gefördert haben. Umgekehrt hegte der betont seriöse Ex-Notenbanker Juschtschenko immer Vorbehalte gegen die sprunghafte Politikerin. Das Zweckbündnis zerfiel nach ein paar Monaten.

Pyrrhussieg

Zu allem Überfluss erwies sich Juschtschenkos Triumph nach Wiederholung der Wahl im Dezember als Pyrrhussieg. Im Zuge eines "Runden Tisches" konnte der westlich orientierte Politiker zwar ins Präsidentenamt einziehen, musste allerdings Verfassungsänderungen in Kauf nehmen, die seine Rechte erheblich minderten und zudem oft unklar formuliert waren: Ein langwieriges Gezerre zwischen Premier und Präsident um Kompetenzen und Macht war vorprogrammiert.

Politikum Neue Grippe

In jüngster Zeit hat der Bassena-Streit zwischen den einstigen Mitstreitern einen neuen Tiefpunkt erreicht: Juschtschenko warf Timoschenko vor, ihre Wahlwerbung hätte mehr gekostet, als für die Bekämpfung der im Land grassierenden Neuen Grippe erforderlich sei. Dass in der Ukraine Gerüchte die Runde machen, die Krankheit sei nur deshalb vom Präsidenten so dramatisch dargestellt worden, um ausländische Hilfe zu lukrieren und sich im Wahlkampf zu profilieren, wirft ein bezeichnendes Licht auf das völlig zerrüttete Vertrauen in die Führung des Staates. Vor allem Juschtschenko ist bei den Ukrainern unten durch: Nur fünf Prozent würden ihn derzeit wählen.

Kaum ein Ukrainer traut den politischen Kräften zu, das Land aus seiner tiefen Krise zu führen. In Umfragen kommt Wiktor Janukowitsch, der vor allem im russischsprachigen Osten und Süden des Landes populäre Gegenspieler Juschtschenkos von 2004, noch am besten weg. Dem Hünen haftet allerdings das Image an, eine Marionette des ostukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow zu sein. Zudem gilt Janukowitsch im Vergleich zu seiner Rivalin Timoschenko als wenig charismatisch.