Zum Hauptinhalt springen

Sehnsucht nach der eigenen Insel

Von Robert Rotifer

Politik
© Peter M. Hoffmann

Formal wird am 23. Juni über Großbritanniens EU-Mitgliedschaft abgestimmt, doch geht es auch um die Rückkehr in eine verklärte Welt vor der Globalisierung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

London. Die Leute im kleinen Supermarkt um die Ecke haben sich noch nie beschwert über den Typen, der immer die Zeitungen abfotografiert. Über die letzten paar Wochen hab ich mir so ein ganzes Erinnerungsalbum an denkwürdigen Schlagzeilen angelegt: "EU-Regeln liefern UK dem Terror aus" ("Daily Telegraph"). "Neue Bedrohung Ihrer Pension durch EU" ("Daily Express"). "Bedrohung des Familienlebens durch EU" (ebenda). "Checkpoint Charlies - EU öffnet die Schleusen für illegale Einwanderer" ("The Sun"). "Europäische Kriminelle - frei, in England zu leben" ("Daily Telegraph").

Das Klima in diesem Land ist, wie man merkt, sicher kein gesundes. Dabei hat die Fußball-EM gerade erst angefangen. Wenn man das Radio aufdreht, hört man Leute, die letztes Jahr noch gemeinsam in den Unterhaus-Wahlkampf zogen, einander Lügner und Fantasten nennen. Und in TV-Werbeblöcken laufen düsterste Machwerke der auch hier endgültig angebrochenen Ära der Post-Wahrhaftigkeits-Politik. So tönt etwa die "Leave"-Kampagne beharrlich, Großbritannien zahle pro Woche 350 Millionen Pfund an Brüssel (ungefähr 450 Millionen Euro, was allerdings Großbritanniens Rabatt nicht berücksichtigt; netto ist es weniger als die Hälfte). Völlig egal, wie viele wutentbrannte Ökonomen offene Entgegnungen schicken, denn Expertenmeinungen sind in diesem Kontext per se suspekt, zumal die Brexit-Fraktion sehr erfolgreich ihr Narrativ einer Verschwörung des Establishments durchgesetzt hat.

Ex-Tory-Chef Iain Duncan Smith zum Beispiel, bis vor kurzem als Work and Pensions Secretary noch Oberzuchtmeister der Austerität und jetzt Robin Hoods engster Gefährte, bezeichnet sämtliche Wirtschaftsprognosen als "grundsätzlich falsch" und reinste Wahrsagerei. Dann wieder meint er, wirtschaftliche Einbußen wären ein Preis, den es sich für die Selbstbestimmung zu zahlen lohne. Und schließlich sagt er mit Sicherheit voraus, dass die Wirtschaft weiterwachsen werde.

Man sieht, hier geht mittlerweile einfach alles.

Liebesbrief an das Vereinte Königreich

Vorige Woche hatte ich jedenfalls die seltene Gelegenheit, meinen eigenen bescheidenen Beitrag zu diesem Getöse zu leisten. Gemeinsam mit dem in Oxford lebenden griechischen Schriftsteller Apostolos Doxiadis und dem seit den 1980ern in London ansässigen französischen Fußballreporter und Songschreiber Philippe Auclair hatte ich in monatelanger E-Mail-Bettelei und mit viel Hilfe von Freunden und Bekannten eine Liste von in Großbritannien hochgeschätzten Europäerinnen und Europäern aus Kultur, Wissenschaft und Sport für die Unterstützung folgender defensivster aller Liebeserklärungen gewonnen: "Wir alle in Europa respektieren das Recht des britischen Volkes, zu bestimmen, ob es mit uns in der Europäischen Union verbleiben will. Es ist Ihre Entscheidung, und wir werden sie akzeptieren. Trotzdem, falls es den Unentschlossenen helfen sollte, sich zu entscheiden, wollen wir ausdrücken, wie sehr wir es schätzen, das Vereinte Königreich in der Europäischen Union zu haben. Es sind nicht bloß Verträge, die uns mit Ihrem Land verbinden, sondern Bündnisse der Bewunderung und Zuneigung. Wir alle hoffen, dass Sie dafür stimmen werden, diese zu erneuern. Britannien, bitte bleib."

Weniger anmaßend geht gar nicht, das fanden unter anderem auch Elena Ferrante, Patrick Süskind, Elfriede Jelinek, Arséne Wenger, Nana Mouskouri, Costa Gavras, Julie Delpy, Isabella Rosselini, Hans-Joachim Rödelius, Alfred Brendel, Björn Ulvaeus von Abba und noch rund 140 andere mehr. Das ehrwürdige TLS ("Times Literary Supplement") hatte für diese Aktion eigens einen Cartoon bei Grüffelo-Illustrator Axel Scheffler bestellt: Britannia auf der grünen Wiese über den Kreidefelsen von Kent, den Degen in der Hand, macht sich bereit, das Band zu kappen, das ihre Insel mit dem Kontinent verbindet. Neben ihr sitzen Löwe und Einhorn, die königlichen Wappentiere. "Sie wird es doch nicht tun, oder?", fragt der Löwe. Das Einhorn blickt besorgt.

Alles sehr schön, aber mein kleiner Supermarkt führt ein strikt auf sogenannte kleine Leute zugeschnittenes Zeitschriften-Sortiment, und da passt das TLS, wie ich feststellen musste, offenbar nicht hinein.

Typisch kontinentaler Fehler, wieder einmal nicht die Klassengesellschaft mitgedacht, dachte ich, und lief auf der Suche nach einem Print-Exemplar den Hügel runter ins Stadtzentrum von Canterbury, das um diese Jahreszeit nur so überquillt vor Sprachschülern aus Europa. Der Bildungs-Tourismus ist eine der wichtigsten Existenzgrundlagen dieser Stadt, neben ihren drei Universitäten mit zigtausend ausländischen Studenten. Doch der örtliche Parlamentsabgeordnete, ein schon seit 1987 auf diesen Posten abonnierter Mann namens Julian Brazier, den man manchmal in pflaumenfarbenen Hosen und kariertem Jagd-Jackett aus dem Kent & Canterbury Club stolpern sieht, ist selbstverständlich pro-Brexit.

Seine Erklärungen dafür schwanken zwischen dem Kampf gegen die Billiglohn-Konkurrenz für die örtlichen Obstpflücker (bisher nicht seine größte Sorge) und der Gefährdung britischer Truppen durch die Putin-feindliche Außenpolitik der EU (an der Nato findet er aber nichts falsch). In Wahrheit tobt unter den Tories ein gnadenloser Geschwisterkrieg, dem sich niemand entziehen kann. Und nachdem der alte Brazier wohl selbst weiß, dass er auch unter einem künftigen Premier Boris Johnson keine Regierungskarriere mehr machen wird, tippe ich bei ihm auf zutiefst emotionale, ja vielleicht sogar ideelle Motive.

Nein, wirklich: Johnson selbst, vor ein paar Jahren noch glühender Verfechter einer EU-Mitgliedschaft der Türkei und deutlich pro-europäischer als Cameron, mag einzig von zynischem Machtkalkül motiviert sein, aber in der Brexit-Fraktion laufen unzweifelhaft auch eine ganze Menge Idealisten verschiedenster Couleurs herum.

Was unter ihnen rechts und links vereint, ist, wie es der "Guardian"-Kolumnist Martin Kettle neulich ausdrückte, ihr britischer Exceptionalism. Anders als sein amerikanisches Gegenstück trägt er oft auch selbstironische Züge. Das macht ihn erträglicher, aber um nichts weniger beratungsresistent gegenüber besserwisserischen Ausländern.

Nostalgische Rückkehr zur Prä-Globalisierungswelt

Ist der chauvinistisch heimelige Euroskeptizismus bei uns noch ein relativ neues Phänomen, so gehört er in Großbritannien nun schon seit drei Jahrzehnten zum Bauchladen griffbereiter Ausreden für alles Misslungene. Auch David Cameron und sein Schatzkanzler George Osborne bedienten sich bis vor kurzem eifrig daran, deshalb wirkt ihre pragmatische EU-Loyalität auch so schlichtweg unglaubwürdig.

Österreichern mag wiederum der Ukip-Slogan "We want our country back" und die mit ihm assoziierte, nostalgische Vision der Rückkehr zu einer wiederhergestellten Prä-Globalisierungswelt bekannt vorkommen. Zu einem gewissen Grad lässt sich die Analogie zwischen dem provinziellen Hofer-Lager und der urbanen Van-der-Bellen-Klientel auch auf die Out- und In-Lager des britischen Referendums anwenden, erst recht in Bezug auf die schauerlich xenophoben Untertöne. Der große Unterschied liegt jedoch im antiautoritären Aspekt des Brexit-Mythos. Ausgerechnet eine konstitutionelle Monarchie, die sich als zweite Kammer ein teils vererbtes, teils ernanntes House of Lords leistet, sieht sich selbst als Bollwerk des demokratischen Widerstandsgeists gegen eine intransparente, diktatorische EU.

Vision von der "wiedererlangten Kontrolle"

"Wenn es wie eine Ratte aussieht und wie eine Ratte riecht, dann ist es vermutlich eine Ratte. Und seien wir uns ehrlich: Europa stinkt", sagte letzte Woche der 72-jährige Rockstar Roger Daltrey in einem Interview mit der "Sun". Im September wird er - vermutlich mit Nasenklammer - beim Stadthallen-Konzert von The Who in Wien wieder die 45 Jahre alten Zeilen "Meet the new boss / Same as the old boss" aus "Won’t Get Fooled Again" singen. Bis dahin will er aber raus aus Europa, schließlich werde es von "einem Haufen verdammter Wichser" regiert.

Die Frage der Einwanderung sei dabei auch ein großes Thema, "aber niemand spricht von der anderen Seite der Sache", so Daltrey. "All die südeuropäischen (sic) Länder werden ihrer Jugend beraubt. Diese Länder wurden vergewaltigt. Ihre Jungen müssen das Land verlassen, um Arbeit zu finden, wie sollen sie da ihre Zukunft wieder aufbauen?" Seine Schlussfolgerung, den Hoffnungslosen zu helfen, indem man sich von ihnen loseist, teilt Daltrey mit überraschenden Verbündeten.

Paul Mason zum Beispiel, der vor kurzem in Wien sein Buch "Postkapitalismus - Grundrisse einer kommenden Ökonomie" (Suhrkamp) vorstellte, behauptete im "Guardian", die linke Ratio für Brexit sei "strategisch und klar", schließlich biete die EU "das gastfreundlichste Ökosystem der entwickelten Welt für Konzernmonopole, steuervermeidende Eliten und organisiertes Verbrechen". Darüber hinaus stelle ihn der rechtsradikale Drift auf dem Kontinent vor ein grundsätzliches Dilemma: "Will ich Teil derselben Wählerschaft sein wie Millionen heimlicher Nazis in Europa?" Gut, dass er sich das aussuchen kann. Aber auch schade, wo er doch sonst immer so vollmundig von Podemos und Syriza schwärmt, von denen er sich dann wohl auch abschotten würde. Soviel zur klaren Strategie. Das Einzige, was Mason am Brexit-Votum hindert, schreibt er, sei die Aussicht, dass Boris Johnson und Justizminister Michael Gove die konservative Regierung übernehmen und Großbritannien zu einer "neoliberalen Trauminsel" umbauen würden.

Doch andere britische Linke könnten selbst damit noch gut leben, solange es um die gemeinsame Vision der "wiedererlangten Kontrolle" geht.

© Peter M. Hoffmann

Und so kommt es, dass eines lauen Maiabends in der St. James’s Church am Piccadilly direkt vor dem Altar, in einem von einer Priesterin in Soutane moderierten Diskussions-Panel der selbsternannte "Leftie" Giles Fraser ausgerechnet neben der konservativen alten Todestrafen-Befürworterin und strammen Kämpferin gegen LGBT-Rechte Ann Widdecombe auf der Seite der "Christians for Britain" sitzt. Fraser war einmal Vikar der St. Paul’s Cathedral, unterstützte als solcher zu Zeiten der Finanzkrise die neben seiner Kirche kampierende Occupy-Bewegung und schreibt wöchentliche Kolumnen im "Guardian". Im Vorfeld des EU-Referendums macht er sich nun als linke Stimme für den Brexit stark.

Er beruft sich dabei nicht nur auf den Geist protosozialistischer britischer Volksbewegungen wie der Diggers, sondern erstaunlicherweise auch auf Martin Luther. In Frasers Weltsicht ist der Vatikan das historische Äquivalent der EU und Britannien die protestantische Bewegung. (Kleiner Schönheitsfehler: Es war Luther, der exkommuniziert wurde. Er wollte reformieren, nicht austreten.)

"Eine verstörende Versuchung"

Die undemokratischen Aspekte des britischen Mehrheitswahlrechts einmal ausklammernd, preist Fraser die von der Allmacht der EU bedrohte britische Tugend, seine Regierung bei Nichtgefallen loszuwerden. Widdecombe nickt dazu ebenso enthusiastisch wie Fraser zu ihren Brandreden gegen die lästigen Regulierungen der EU und für die Freiheit, sich nicht länger von europäischen Bürokraten und deren Gerichten in seinen Wohlfahrts- und Rechtsstaat dreinreden zu lassen.

Fraser, immer noch nickend, kann sich scheinbar nicht erinnern, was die Hardlinerin Widdecombe in den 1990ern in ihrem Job als Staatssekretärin im Department of Employment oder später als Staatssekretärin für das Gefängniswesen darunter verstanden hätte.

Wie viele in der britischen Linken, die bis vor kurzem noch die EU der Delors-Ära als positiven Einfluss auf britische Regierungen idealisierten, markiert für ihn das Verhalten der Troika gegenüber Griechenland den Punkt, da Europa sein wahres, brutales Gesicht als neoliberales Terror-Regime zeigte. Inwieweit ein britischer EU-Austritt den Griechen helfen soll, vermag er auf Frage aus dem Publikum allerdings auch nicht zu sagen: "Die Griechen sind imstande, da ihren eigenen Weg raus zu finden."

© Peter M. Hoffmann

Die Möglichkeit, auf europäischer Ebene solidarisch aktiv zu werden, kam der britischen Linken traditionell kaum in den Sinn. Und wenn, dann sehr spät: "Another Europe is Possible" heißt eine Kampagne, die sich erst vor zwei Wochen im University College London zu einer öffentlichen Konferenz traf: Auf dem Podium die einzige grüne Unterhaus-Abgeordnete Caroline Lucas, Labours Schattenschatzkanzler John McDonnell, Kolumnist und Autor Owen Jones ("Chavs", "The Establishment") sowie Yanis Varoufakis.

Im Gründungs-Statement des Bündnisses steht, man wolle "die Kampagne für ein ‚In‘-Votum mit Argumenten für ein alternatives Wirtschaftsmodell kombinieren" und für "weitreichende demokratische Reformen europäischer Institutionen" eintreten. Bisher ist aber fast nichts davon in den von rabiaten "Blue on Blue"-Attacken unter Tories dominierten Medienmainstream vorgedrungen. Laut parteiinternen Umfragen weiß die Mehrheit der Labour-Stammwählerschaft nicht einmal, dass ihre Partei für einen Verbleib in der EU eintritt. Nach all den Prognosen, Anwürfen und Rundumschlägen droht sich das Referendum in den vergessenen Winkeln Großbritanniens also zu einer zutiefst romantischen Frage zu kristallisieren, die so nicht auf dem Stimmzettel steht: Wollen wir den Status quo, oder fangen wir irgendwo in den Siebziger Jahren noch einmal von vorne an?

David Cameron dabei zuzusehen, wie er mit rotem Kopf und glänzender Stirn gegen diese tiefe Sehnsucht anpustet, wird zunehmend schmerzhafter. Selbst ein zutiefst europhiler Romanautor wie Simon Mawer ("The Glass Room") tweetete neulich: "Das Problem ist: Die schnellste Art, Cameron loszuwerden, ist im Referendum für einen Austritt zu stimmen. Eine verstörende Versuchung. Ich wünschte, er könnte die Klappe halten." Doch dafür ist es längst zu spät.

Robert Rotifer, freischaffender Musiker, Journalist, Radiomacher und Kurator, lebt seit 1997 in Großbritannien. Sein neuestes AlbuFm "Not Your Door" erscheint am 30.6. (Gare du Nord Records, Vertrieb Hoanzl).