Warnung vor inflationärem Gebrauch des Antisemitismus-Vorwurfs.
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Wien. "Wie sollen wir Juden mit Antisemitismus umgehen?", fragt Peter Menasse an einer Stelle seines Buches "Rede an uns". Und liefert gleich darauf auch die Antwort mit - "gelassen und wehrhaft", denn: "Es gibt mehr Menschen, die uns wohlgesonnen sind, als solche, die uns ablehnen. Das korreliert mit der Zahl der intelligenten Menschen. Sie sind auch in der Überzahl gegenüber den Dummen."
Menasse formuliert ein eindringliches Plädoyer an die Juden, endlich aus dem Schatten der Shoah, dem millionenfachen Mord am eigenen Volk durch die Nationalsozialisten, herauszutreten und die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Die Zeit für einen solchen Schnitt mit der Vergangenheit sieht er jetzt, beinahe sieben Jahrzehnte später, reif. Ein Volk, das so viele Hochbegabte hervorgebracht habe - als seine Top drei der erfolgreichsten Juden aller Zeiten nennt der Autor, nicht ohne Augenzwinkern, Karl Marx, Jesus und "Facebook"-Gründer Marc Zuckerberg -, dürfe sich nicht auf Dauer in die Rolle des ewigen Opfers zurückziehen. Zu viele Talente würden dadurch verschwendet. Und auch die Last des ewigen Mahners soll von den Juden genommen werden: Verantwortlich für eine liberale demokratische Gesellschaft, für den Kampf gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit sei nämlich in erster Linie die Mehrheitsbevölkerung.
Menasse, im Hauptberuf Kommunikationsberater und nebenbei Chefredakteur des jüdischen Magazins "Nu", betritt mit seiner Rede an die eigene Gemeinschaft schwieriges Terrain, nicht nur, aber eben auch in Österreich. Sein Appell für einen Schlussstrich ginge einem Nicht-Juden nur schwer über die Lippen, und wenn, würde er eher für aufgeregte Debatten und Missverständnisse sorgen. Menasse ist sich dieses Tabus bewusst, er nimmt sich als jemand, der - wie er selbst schreibt - "viele Familienmitglieder nie kennengelernt hat, weil sie von der SS in Auschwitz und Theresienstadt und von der Wehrmacht an unbekannten Orten ermordet wurden", dieses Recht, es zu herauszufordern.
Und noch ein heißes Eisen greift er an: die inflationäre Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs, nicht zuletzt durch Vertreter der jüdischen Gemeinden selbst. Diese Kritik richtet er explizit an den ehemaligen Präsidenten der Kultusgemeinde, Ariel Muzicant. Dazu Menasse: "Wenn die Muzicants dieser Welt ,Shoa` rufen oder auch nur andeuten, wagt kein anständiger Mensch mehr zu widersprechen, weil er fürchten muss, von den obersten Opferrollenverwaltern des Antisemitismus bezichtigt zu werden." Mit Muzicant liegt Menasse schon länger im Clinch, zuletzt unterstützte der Autor eine oppositionelle Liste bei der Wahl der Kultusgemeinde.
Die Rede ist ein Plädoyer, den Juden das zurückzugeben, was ihnen durch die Geschichte, vor allem die des 20. Jahrhunderts, genommen wurde: Normalität. Also keine Mahnungen vor den Antisemiten, Schluss mit der demonstrativen Umarmung durch Philosemiten und her mit der entwaffnenden Ehrlichkeit eines Misanthropen, der auf die Frage, ob er Juden mag, einfach antwortet: "Nein, mir sind die Juden genauso zuwider wie alle anderen Menschen auch."
So schnell - diese Diagnose sei gewagt - wird der Wunsch nicht in Erfüllung gehen. Das zeigt nicht zuletzt die hitzige Debatte über den Antisemitismus-Vorwurf gegen den linken deutschen Journalisten und Israel-Kritiker Jakob Augstein durch das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles.