Für viele AKP-Wähler geht es nicht um gegängelte Medien, sondern um Schulen und neue Straßen. Eine Analyse.
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Ankara/Wien. Damit hatten nicht einmal die glühendsten AKP-Anhänger gerechnet. Wer besonders optimistisch war, hat auf 45, vielleicht 46 Prozent getippt, schließlich deuteten alle Umfragen in den vergangenen Wochen darauf hin, dass die seit 13 Jahren in der Türkei regierende AKP wieder bei jenen knapp 41 Prozent zu liegen kommen würde, die sie schon bei der Parlamentswahl am 7. Juni erreicht hatte.
Geworden sind es letztendlich fast 50 Prozent. Die islamisch-konservative Partei, die 2001 vom jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan mitgegründet wurde, konnte damit nicht nur den Abstand zur zweitplatzierten CHP deutlich ausbauen. Die AKP hat auch die absolute Mehrheit zurückgewonnen, deren Verlust man in der Partei mit einer Mischung aus tiefgreifendem Schock und ungläubigem Staunen erlebt hatte.
Erdogan, der noch immer die zentrale Figur dieser Partei ist, obwohl er als Präsident eigentlich zu Überparteilichkeit verpflichtet wäre, hat viel in die Waagschale geworfen, um die AKP zurück auf die Siegerstraße zu führen. Der Friedensprozess mit den Kurden wurde gekippt, die pro-kurdische HDP, die im Juni erstmals ins Parlament einzog und damit die absolute Mehrheit der AKP verhinderte, wurde als terroristische Vereinigung gebrandmarkt.
Sehnsucht nach Stabilität
Gleichzeitig wurde der Druck auf Medien, die nicht auf Regierungslinie liegen, nochmals erhöht. Fünf Tage vor der Wahl wurde der Medien-Konzern Koza-Ipek unter Zwangsverwaltung gestellt. Wo es vorher kritische Berichte gab, wurden plötzlich staatstragende Bilder des Staatspräsidenten und Wohlfühlprogramm gezeigt. Viele türkische Journalisten müssen sich mittlerweile sogar vor Gericht wegen des Vorwurfs der "Beleidigung des Präsidenten" verantworten.
Dass knapp 50 Prozent der Türken dennoch die AKP wählen mag zwar überraschen, unerklärlich ist es aber nicht. Denn dort wo die Partei ihre Stammwählerschaft hat, sind Terrorismus, Syrienkrieg und die Einschränkung der Pressefreiheit zumeist etwas, das man nur aus dem Fernsehen kennt - wenn überhaupt. In den AKP-Hochburgen in der Provinz geht es vielmehr um den sozialen Aufstieg, den man in den vergangenen Jahren auch mit Hilfe der AKP geschafft hat und der nun auf einmal wieder abzubröckeln droht. Es geht um neue Schulen, bessere Straßen und all die anderen Wohltaten, die die AKP-Kandidaten wortreich versprechen. Und es geht um "Stabilität" und "Sicherheit", zwei Schlagwörter des vergangenen Wahlkampfs, die vor allem bei den kleinen Wirtschaftstreibenden in der AKP-Wählerschaft auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Denn mit jedem Tag, an dem es keine stabile Regierung gibt, sinkt die Investitionsfreude. Die Sorge vor einem Abstieg der Türkei als Tourismus- und Wirtschaftsstandort geht mittlerweile vielerorts um.
Die zerstrittene Opposition hat dem Stabilitätsversprechen der AKP inhaltlich nur wenig entgegenzusetzen. Und keine andere Partei ist flächendeckend auch nur annähernd so gut organisiert und so finanzkräftig wie sie. Die von der AKP versprochene Stabilität wird in der Zukunft aber möglicherweise auf ganz anderen Füßen stehen. Denn mit dem Momentum des Wahlsiegs soll ein Lieblingsprojekt des Präsidenten wiederauferstehen, das nach der Wahlniederlage im Juni eigentlich schon begraben schien: Die Türkei soll in ein Präsidialsystem umgewandelt werden, in dem Erdogan als Staatsoberhaupt nicht nur de facto, sondern auch de jure alle Fäden zieht.
Dass man es dabei durchaus eilig hat, ist offensichtlich. Noch am Wahlabend hatte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in seiner Siegesrede auf dem Balkon des AKP-Hauptquartiers für eine Verfassungsreform geworben. Dass der AKP derzeit noch 13 Abgeordnete für die notwendige 60-Prozent-Mehrheit fehlen, um ein Referendum für eine Verfassungsreform auf den Weg zu bringen, könnte sich in den kommenden Jahren als durchaus lösbares Problem erweisen. So hatte die AKP bereits im Wahlkampf einen prominenten Politiker der rechtsnationalistischen MHP abgeworben und ihn zum Minister der Übergangsregierung gemacht.
Die einzige Gefahr für die Mächtigen der AKP dürfte in den kommenden Jahren also von ihnen selbst ausgehen. Denn wenn es ihnen nicht gelingt, die für die Sicherung des Wirtschaftsstandorts nötigen Strukturreformen anzugehen, könnten sich jene Stammwähler, die jetzt über gegängelte Medien hinwegsehen, enttäuscht abwenden.