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Sehnsucht nach Werten

Von Alexander Dworzak

Politik
Jeremy Corbyn könnte vom Hinterbänkler zum Parteichef aufsteigen. epa/Oliver

Ab Freitag stimmen Mitglieder und Sympathisanten der britischen Labour über den neuen Parteichef ab.


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London/Wien. Wenn Boris Johnson Rad fährt, verströmt er die unverwechselbare britische Oberschicht-Kombination aus Lässigkeit und Überheblichkeit. Den Korpus quetscht der Konservative in edle, dunkelblaue Anzüge und blütenweiße Hemden. Das Outfit kontrastiert mit der blonden Mähne, sie ist dank des Fahrradhelms notdürftig gebändigt. So rollt Londons Bürgermeister regelmäßig in 10 Downing Street ein, den Amtssitz von Premier David Cameron. Unter den radelnden Politikern Großbritanniens ist Jeremy Corbyn die optische Antithese zu Johnsohn: Der Parlamentsabgeordnete der sozialdemokratischen Labour trägt ein simples, kurzärmliges Hemd. Es hängt aus der khakifarbenen Hose im Schlabberlook. Krawatte oder Sakko? Fehlanzeige. Dafür steckt ein Kugelschreiber in der Brusttasche, unter dem Hemd blitzt ein weißes T-Shirt durch.

Für Verstaatlichung

Johnson zelebriert seinen Außenseiterstatus, Corbyn dagegen ist tatsächlich ein Außenseiter. Seit 1983 sitzt er für den Londoner Bezirk Islington North im Unterhaus. Nie hatte er jedoch eine Regierungsfunktion inne oder war Teil eines Schattenkabinetts, als Labour in Opposition musste. Doch ausgerechnet Corbyn, mittlerweile 66 Jahre alt, hat gute Chancen, neuer Vorsitzender von Labour zu werden. Ab Freitag stimmen Mitglieder und Anhänger der Sozialdemokraten über ihren neuen Parteichef ab. Notwendig wurde die Wahl durch das Desaster bei der Parlamentswahl im Mai: Ed Miliband fuhr eine desaströse Niederlage ein; die Konservativen - damals auf den liberaldemokratischen Koalitionspartner angewiesen - erreichten die absolute Mandatsmehrheit und regieren seitdem alleine.

Nach der Niederlage trat Miliband zurück. Dass Corbyn überhaupt eine Chance auf den Parteivorsitz hat, verdankt er innerparteilichen Gegnern. Denn zumindest 35 Abgeordnete sind für eine Nominierung nötig. Bloß sorgten die zur Mitte neigenden Kandidaten Andy Burnham und Yvette Cooper sowie die Parteirechte Liz Kendall nicht für eine lebhafte parteiinterne Diskussion, sondern lediglich Fadesse. Also liehen zwölf Abgeordnete Corbyn ihre Stimme, damit auch er auf 35 Mandate kommt - und für ein bisschen Gesprächsstoff sorgt.

Corbyns Programm klingt utopisch: Post, Bahn und Energieversorger möchte er verstaatlichen. Zudem ist er gegen die Nato-Mitgliedschaft seines Landes und Atomwaffen. Schon früh bürstete Corbyn gegen den Strich: 1983 lud er Gerry Adams von der irischen Sinn-Féin ein, der zu der Zeit noch als Terrorist galt. 1984 wurde er bei einer Anti-Apartheidsdemonstration verhaftet.

Blair im Einklang mit Thatcher

Selbst wenn Corbyn mit seinen aktuellen Vorschlägen innerhalb von Labour nur eine Minderheit vertreten sollte: Die Sympathisanten der Partei lieben ihn dafür, dass er seine Werte konsequent vertritt. Ein klares politisches Profil sucht man in Großbritanniens Linker nämlich vergeblich.

Vor knapp 21 Jahren war Labour in einer ähnlich desaströsen Lage wie heute. Denn seit 1979 regierten die Konservativen, deren Macht wie einzementiert schien. Der 1994 neu gewählte Parteichef Tony Blair machte daher aus Labour "New Labour" und plädierte für einen "Dritten Weg" - wie etwa auch Bill Clinton. Blair akzeptierte damit nicht nur die wirtschaftliche Liberalisierung unter Margaret Thatcher, sondern trieb sie voran. Auch der Banken- und Finanzsektor wuchs unter den sozialdemokratischen Regierungen. Trug dieser laut einer Parlaments-Studie 1997 noch 73,6 Milliarden Pfund zur Bruttowertschöpfung bei (das entspricht 6,6 Prozent der gesamten damaligen Bruttowertschöpfung in Großbritannien), waren es im vorläufig letzten Labour-Regierungsjahr 2010 knapp 127 Milliarden Pfund oder 8,6 Prozent.

Nach 13 Jahren an der Regierung waren die Wähler Labour überdrüssig. Erstens, weil Blair die Kriegspolitik des damaligen US-Präsidenten George W. Bush bedingungslos unterstützte und damit in weiten Teilen der britischen Bevölkerung zum "Bliar", einer Abwandlung des Worts Lügner, verkommen war. Zweitens, weil Blairs Nachfolger Gordon Brown zwar zuvor ein exzellenter Finanzminister war, ihm aber das Format zum Premier fehlte.

Partei ohne Ideen

Eine Idee, mit welchen Werten und Ideen Labour wieder reüssieren könnte, hat die Partei in fünf Jahren der Opposition nicht zustande gebracht. Sie wirkt wie eine weichgespülte Version der Konservativen, die seit Jahren einen harten Sparkurs fahren. Und plötzlich taucht der politische Nobody Corbyn auf und sagt, er halte Karl Marx für einen großen "Beobachter" des menschlichen Zusammenlebens und der Gesellschaft: "Er war eine faszinierende Figur, der viel beobachtete und von dem wir viel lernen konnte."

Geschadet hat es Corbyn nicht: 53 Prozent der Labour-Sympathisanten sind laut Umfrage der "Times" für ihn. Die anderen Kandidaten erreichen demnach zwischen 8 und 21 Prozent. Zugutekommen könnte Corbyn, dass neben Parteimitgliedern auch Mitglieder assoziierter Organisationen wie der Gewerkschaften und Sympathisanten, die drei Pfund für die Teilnahme gezahlt haben, den neuen Parteichef wählen können, somit gesamt 609.000 Personen. Das Ergebnis wird am 12. September bekanntgegeben.

Blair und seine Anhängerschaft machen derweil Stimmung gegen Corbyn. Der Ex-Premier warnt im "Guardian", Labour befinde sich in der größten Gefahr seiner hunterjährigen Geschichte, sollte der Linke gewählt wären. "Mit Corbyn an der Spitze droht bei der kommenden Wahl keine Niederlage wie 1983 oder 2015. Es würde die Vernichtung bedeuten", meint Blair. Und anonyme "Parterinsider" streuen Gerüchte über eine Spaltung Labours, falls Corbyn gewählt wird oder einem Putsch gegen ihn noch vor der nächsten Parlamentswahl.