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Einigung auf neue Regierung nicht absehbar. | "Frittenrevolution" der Studenten. | Brüssel. Belgien steuert einem bedenklichen Weltrekord entgegen, Studenten in mehreren Städten haben bereits die "Frittenrevolution" ausgerufen. Sie richtet sich anders als die Revolutionen in Nordafrika aber nicht gegen das Regime. Denn das EU-Sitzland hat heute, Freitag, bereits seit 250 Tagen keine offizielle Regierung mehr.
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Der aktuell von König Albert II. eingesetzte Vermittler Didier Reynders von den frankophonen Liberalen soll bis zum 1. März ausloten, ob es aus den völlig festgefahrenen Verhandlungen um eine Staatsreform Auswegmöglichkeiten gibt. Erst dann überlegt der König erneut, welchen Spitzenpolitiker er mit einem neuen Anlauf beauftragen könnte.
So hat Belgien gute Chancen, den bisherigen Weltrekord des Irak einzustellen, der im Vorjahr 289 Tage lang keine Regierung hatte. Den Weltrekord für die längsten völlig ergebnislosen Koalitionsverhandlungen haben die Belgier bereits gestern, Donnerstag, am 249. Tag übertroffen. Im Irak hatten sich Schiiten, Sunniten und Kurden letzten November nach 248 Tagen auf ein grundsätzliches Regierungsmodell geeinigt. Bis zur offiziellen Angelobung im Dezember war in Bagdad dann freilich noch einige Feinarbeit nötig.
Doch so weit sind die Belgier noch lange nicht, bereits mehrmals sind Vorbereitungsgespräche für eine Regierungsbildung gescheitert. Dabei hatte sich König Albert II. durchaus trickreich verhalten und immer neue Aufträge erdacht: Erst war erfolglos ein "Informateur" unterwegs, dann ein "Preformateur", dann über Monate ein paar "Mediateure" am Ende gar das "Triumvirat" inklusive der beiden Wahlsieger vom Juni, dem Separatisten Bart De Wever von der "Neuen flämischen Allianz" (N-VA) und dem Sozialdemokraten Elio Di Rupo aus Wallonien.
Doch diese beiden politischen Gegenpole illustrieren recht eindrücklich, warum die Lage so verfahren ist, stehen exemplarisch für die beiden auseinander driftenden Landesteile Flandern und Wallonien.
Streit zwischen Flamen und Wallonen
Flamen und Wallonen wählen jeweils nur ihre eigenen Parteien, die vor allem die Interessen der Landesteile vertreten, sich aber nach den Wahlen zu einer belgischen Föderalregierung zusammenschließen sollen. Der flämisch sprechende Norden prosperiert und hat die milliardenschweren Transferleistungen in den Süden satt. Diese will De Wever daher stark kürzen. Di Rupo pocht im Gegenzug auf gesamtstaatliche Solidarität und eine starke Zentralregierung.
Einig sind sich die meisten immerhin, dass nur eine Staatsreform ein Ausweg sein könnte. Dass der gegenwärtige Vermittler Reynders den Gordischen Knoten lösen kann, glaubt niemand so richtig.
Und so reißt sogar den ansonsten stoischen Belgiern langsam die Geduld. Die "Frittenrevolution" war nur die jüngste Protestaktion. Schon im Jänner protedstiertehn in Brüssel 30.000 Menschen gegen den monatelangen politischen Stillstand. Sie haben inzwischen prominente Unterstützung: Die sozialdemokratische Senatorin Marleen Temmerman hat die belgischen Frauen öffentlich aufgerufen, sich sexuell zu verweigern, bis endlich eine neue Regierung steht. Der Schauspieler Benoit Poelvoorde forderte seine Landmänner auf, sich bis zu einem Kompromiss nicht mehr zu rasieren.