New York - Der Satz, dass nach den Terroranschlägen vom 11. September nichts mehr so sei wie zuvor, ist in den letzten Monaten viel strapaziert worden. So diskussionsbedürftig diese Aussage in anderen Bereichen auch sein mag: Für die Rechtssysteme vieler Länder, besonders der so genannten altehrwürdigen Demokratien, trifft sie in einem Maße zu, wie dies noch vor einem halben Jahr undenkbar erschien.
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So haben die von den Parlamenten der Demokratien angelsächsischer Tradition abgesegneten Verschärfungen die Habeas-Corpus-Akte zum Altpapier degradiert. In diesem als Reaktion auf königliche Willkür entstandenen britischen Grundgesetz wurden 1679 die persönlichen Freiheitsrechte der Bürger gestärkt. Viele ihrer Bestimmungen gingen in die amerikanische Verfassung und die französische Deklaration der Bürgerrechte von 1789 ein.
Wie schon beim Streit um den Kosovo-Krieg und ähnliche militärische Einsätze der letzten Jahre scheinen sich die Fronten in vielen Fällen verdreht zu haben, wurde das fast im gesamten 20. Jahrhundert gültige Links-Rechts-Schema ad absurdum geführt. So war es ausgerechnet die Labour-Partei, die jahrzehntelang die liberale Tradition der britischen Demokratie gegen alle konservativen Angriffe verteidigt hatte, die unter ihrem Führer Tony Blair einer Gesetzesverschärfung zustimmte. Es war dem nicht gewählten Oberhaus vorbehalten, dagegen Front zu machen. Das House of Lords, früher verlässlicher Hort der Reaktion, protestierte gegen Gesetze wie die unbegrenzte Inhaftierung von Ausländern ohne Anklage nur auf bloßen Verdacht hin, gegen erweiterte Befugnisse für die Polizei und leichtere Einsichtnahme in private Finanz- und Steuerangelegenheiten.
In Deutschland war es der ehedem als links geltende frühere RAF-Anwalt Otto Schily, der sich als Innenminister anschickte, die "Law-and-order"-Advokaten von rechts auf ihrem ureigensten Terrain zu bedrängen. In seinem so genannten Sicherheitspaket zwei werden die Befugnisse der drei Geheimdienste gestärkt, das Ausländer- und Asylrecht verschärft und die Überwachung der Bürger intensiviert.
In den USA wurden durch Gesetz oder Verordnung des Präsidenten geheime Inhaftierungen in bisher nicht gekanntem Ausmaß möglich, Abhörrechte gelockert oder die Zuständigkeit der zivilen Justiz durch Ausweitung der Befugnisse von Militärgerichten in Terrorsachen ausgehölt. Indien und Australien haben ähnliche Regelungen geschaffen. In Singapur monierte der Oppositionsführer Chee Soon Juan, dass den autoritären Regierungen des südostasiatischen Stadtstates immer schon jedes Mittel recht gewesen sei, um Bürgerrechte zu beschneiden. "Zuerst war es der Kommunismus, heute ist es der Terrorismus", so Juan.
Wie er warnen viele Bürgerrechtler rund um den Globus vor den Gefahren der neuen Gesetzesverschärfungen im Namen angeblicher Sicherheit. Der australische Bürgerrechtsanwalt Terry O'Gorman sagte über die Pläne der konservativen Regierung in Canberra, sie seien geradezu eine Einladung zum Machtmissbrauch.
Juan, O'Gorman und der russische Journalist Otto Latsis befürchten, dass die offiziell im Namen des Antiterrorkampfes geschaffenen Gesetze in Wirklichkeit gegen jede politische Opposition gerichtet seien.
Der Abbau traditioneller Rechte rief auch die Vereinten Nationen auf den Plan. In einer seltenen gemeinsamen Stellungnahme warnten 17 angesehene Experten und Ratgeber der UNO-Menschenrechtskommission in Genf, der Kampf gegen den Terrorismus dürfe nicht zur Verletzung von Menschenrechten führen. Das Beispiel der USA sei sehr beängstigend, sagte einer der UNO-Experten, der Malaysier Param Cumaraswamy. Besonders Entwicklungsländer mit mangelnder demokratischer Tradition könnten dies zum Vorwand für Eingrenzung von Freiheitsrechten nehmen und erklären: "Wenn die Vereinigten Staaten es können, warum dann wir nicht."